Thüringische Landeszeitung (Eisenach)
Realpolitische Einsicht
Vor mehr als 20 Jahren erlitt der damalige Außenminister Joschka Fischer einen Riss des rechten Trommelfells. Ein Kritiker hatte ihm beim Parteitag in Bielefeld einen roten Farbbeutel aufs Ohr geworfen.
Es war der schmerzhafte Höhepunkt im erbitterten Streit zwischen Fundis und Realos um die Zustimmung zum Kosovo-Einsatz der Nato mit deutscher Beteiligung.
Seitdem hat sich viel verändert. Die Parteiflügel stehen sich nicht mehr so erbittert gegenüber.
Derart gewalttätige Auseinandersetzungen hat es auf Thüringer Delegiertenkonferenzen glücklicherweise nicht gegeben. Aber auch dort wurde oft laut und munter auf offener Bühne gestritten. In der Regel sehr zur Freude der politischen Konkurrenz. Diese Zeiten scheinen zumindest vorerst vorbei.
Für viele grüne Pazifisten sind Waffenlieferungen zwar immer noch ein Tabu. Und beim Landesparteitag in Leinefelde-Worbis haben sich einige auch zu Wort gemeldet. Doch eine wirkliche Kontroverse gab es nicht. Am Ende wurde ein Leitantrag einstimmig beschlossen, der auch Waffen für die von Russland überfallene Ukraine vorsieht. Obwohl im Wahlprogramm steht: „Exporte von Waffen und Rüstungsgütern an Diktaturen, menschenrechtsverachtende Regime und in Kriegsgebiete verbieten sich.“
Dieser Satz scheint mittlerweile aus der Zeit gefallen. Der aktuelle Konflikt in Europa ist viel zu weit fortgeschritten, als dass er noch ohne schweres Kriegsgerät zu lösen wäre. Die deutsche Bundesregierung, an der die Grünen beteiligt sind, darf dabei nicht teilnahmslos an der Seitenlinie stehen. Diese realpolitische Einsicht haben inzwischen auch viele Thüringer Grüne – wenn auch schweren Herzens.