Thüringische Landeszeitung (Eisenach)
Kahla als literarisches Vorbild
Nobelpreis-Kandidat László Krasznahorkai hat in Weimar seinen Roman über Thüringen „Herscht 07769“vorgestellt. Am Freitag ist er in Jena zu erleben
Ursprünglich wollte László Krasznahorkai einen Bach-Roman schreiben. Dafür besuchte er extra Thüringer Lebensstationen des Komponisten. „Plötzlich tauchte ein Mann, ein Riese, neben mir auf“, erzählte der ungarische Autor am Mittwoch während der Präsentation seines Romans „Herscht 07769“im Weimarer Mon Ami. Dieser Riese habe sich als Florian Herscht vorgestellt und ihm seine Geschichte erzählt. „Meine einzige Aufgabe war, eine Form für sein unglaubliches Schicksal zu finden.“
Hinter seinem Rücken existierten tausende Kreaturen, die einer anderen Realität entstammten, berichtet Krasznahorkai. Aus dieser parallelen Welt drängen immer wieder Charaktere hervor, die er zu Romanhelden werden lässt. Herschts Schicksal sei sehr stürmisch gewesen, so der in Triest lebende Ungar. Wohl auch deshalb verzichtet der Schriftsteller auf jegliche Punkte im Buch, setzt stattdessen nur Kommas. So entfacht er einen grandiosen Erzählstrudel. Dank der Vortragskunst von Schauspieler Peter Rauch spürten auch die Gäste der Weimarer Lesarten die Sogwirkung der Sprache Krasznahorkais.
Florian Herscht lebt in einer thüringischen Kleinstadt unweit von Jena. Im Roman Kana getauft, erkennen Ortskundige darin leicht Kahla wieder. In das Provinzstädtchen Kana ziehen immer mehr Neonazis.
Ihr Boss hegt ein gewisses Interesse für den einfältigen Riesen und bringt ihm die Musik Bachs nahe. Dennoch bleibt Herscht auf Distanz zu den Rechten. Im Laufe des Romans entwickelt er sich sogar zum Rächer. Der Literat beschreibt ihn als eine Art Engel, der einerseits gut, andererseits ein Richter sei.
Krasznahorkai sei ein „europäischer Autor von Weltgeltung“, sagte Moderator Wieland Koch, Referent der mitveranstaltenden Landeszentrale für politische Bildung Thüringen. Geboren in der Kleinstadt Gyula im Osten Ungarns, führt ihn ein Stipendium noch zu Zeiten des Kalten Krieges nach Westberlin. Nach dem Mauerfall bereist er die Welt, lebt etwa zeitweilig in der Wohnung von Allen Ginsburg in New York. Zu seinen bekanntesten Romanen zählen „Satanstango“und „Melancholie des Widerstands“. Krasznahorkai wurde vielfach ausgezeichnet, gilt sogar als Nobelpreis-Kandidat.
Kahlaer erleben den Roman noch einmal anders
Auch für „Herscht 07769“sind Kritiker wieder voll des Lobes. Kahlaer lesen dieses Buch aber noch einmal anders, wie die Signierstunde offenbarte. „Wir werden in diesem Buch durch Kahla geführt, auf eine ungemütliche Art und Weise“, sagte eine Einheimische. Es gebe wenige Anhaltspunkte, dass das Leben dort auch schön sein könne. Eine zweite entdeckte ihren Namen nebst Profession im Band. Unwissentlich wurde sie zur Romanfigur. „Die Grenze zwischen Realität und Fiktion sei sehr eng“, erwiderte der Autor. Bereits in der nächsten Spielzeit kommt sein Roman erstmals auf die Bühne – in Rudolstadt. Live zu erleben ist Krasznahorkai am heutigen Freitag noch einmal in Jena.
Buchpräsentation in der Thüringer Universitätsund Landesbibliothek in Jena: Freitag, 24. Juni, ab 19 Uhr.