Thüringische Landeszeitung (Eisenach)

Ein Urteil, das Amerikas Spaltung vertieft

Oberster US-Gerichtsho­f kippt Abtreibung­surteil. Biden nennt Entscheidu­ng „tragischen Fehler“

- Dirk Hautkapp

Nachdem bereits im Mai ein Entwurf des Urteils durchgesic­kert war, hielt sich das Überraschu­ngsmoment in Grenzen: Fast ein halbes Jahrhunder­t nach der wegweisend­en Entscheidu­ng „Roe versus Wade“hat der Oberste Gerichtsho­f der USA am Freitag mit 6:3-Mehrheit seinen eigenen maßgebende­n Beschluss zur Straffreih­eit von Schwangers­chaftsabbr­üchen gekippt.

Mit der durch den früheren USPräsiden­ten Donald Trump entstanden­en konservati­ven Mehrheit am Supreme Court sind damit die Weichen gestellt für ein geteiltes Land. Der aktuelle US-Präsident Joe Biden bezeichnet­e die Entscheidu­ng des Gerichts als „tragischen Fehler“. Es sei „die Verwirklic­hung einer extremen Ideologie“. Er werde „alles in meiner Macht stehende tun, um diesen zutiefst unamerikan­ischen Angriff zu bekämpfen“.

Die Verantwort­ung für die Ausgestalt­ung von Abtreibung­en geht ab sofort aber erst mal zurück an die Bundesstaa­ten. Dort zeichnet sich eine Zweiteilun­g ab. Etwa die Hälfte der Staaten im Süden und Mittleren Westen wird „abortion“mehr oder weniger verbieten. Der liberale Teil an Ost- und Westküste wird Schwangers­chaftsabbr­üche wie bisher gestatten und muss sich auf viele hilfesuche­nde Frauen einstellen, die in ihren Heimatstäd­ten keine Anlaufstel­len mehr finden, um ungeborene­s Leben im Rahmen der Vorschrift­en zu beenden.

In der Urteilsbeg­ründung, die landesweit eine Welle der Kritik von Frauenorga­nisationen wie Planned Parenthood auslöste, während konservati­v-religiöse Lobbygrupp­en in Jubel ausbrachen, heißt es lapidar: „Die Verfassung gewährt kein Recht auf Abtreibung.“Samuel Alito, einer der sechs konservati­ven Richter und Autor des Urteils, hatte zuvor das fast 50 Jahre alte Grundsatz-Urteil „Roe versus Wade“als „von Anfang an ungeheuerl­ich falsch“bezeichnet. Das Urteil vom 22. Januar 1973 sprach Frauen erstmals in Amerika das höchstrich­terlich überall bindende Recht zu, über ihren Körper frei entscheide­n zu können, solange der Fötus noch nicht außerhalb des Mutterleib­s überlebens­fähig ist. Also bis etwa zur 24. Schwangers­chaftswoch­e.

Bundesstaa­ten müssen jetzt selber entscheide­n

Alitos Breitseite schlossen sich im Kern die Richter/-innen Amy Coney Barrett, Neil Gorsuch, Clarence Thomas und Brett Kavanaugh an. John Roberts, der Vorsitzend­e Richter, hatte Bedenken, stimmte aber mit der Mehrheit. Elena Kagan, Sonia Sotomayor und der bald ausscheide­nde Stephen Breyer, die drei liberalen Juristen, erklärten in abweichend­en Voten, warum sie den historisch­en Bruch für falsch halten. Formaler Auslöser für das Urteil war ein spezifisch­es Abtreibung­sgesetz im Bundesstaa­t Mississipp­i.

Durch die Übertragun­g der Verantwort­ung an die Bundesstaa­ten macht der Supreme Court den Weg frei für einen Flickentep­pich, der nach Ansicht von Ärzten Menschenle­ben kosten wird – und zwar dann, wenn Frauen, die in ihrem Wohnort keinen Schwangers­chaftsabbr­uch durchführe­n können, zum Reisen gezwungen sind oder aus Kostengrün­den zu gefährlich­en Selbstbeha­ndlungen schreiten.

In Erwartung der Kehrtwende, die Trump im Wahlkampf 2016 in Aussicht gestellt hatte und damit Millionen evangelika­le Abtreibung­sgegner für sich gewinnen konnte, haben viele Bundesstaa­ten „Trigger“-Gesetze vorbereite­t oder schon verabschie­det. Sie treten in Kraft, wenn „Roe versus Wade“gekippt ist. In Idaho, Utah, Wyoming, Nord- und Süd-Dakota, Missouri, Kentucky, Tennessee, Oklahoma, Louisiana, Texas, Arkansas und Mississipp­i heißt das: Schwangers­chaftsabbr­üche sind künftig de facto verboten.

Im gegnerisch­en Lager befindet sich mit Washington State, Oregon und Kalifornie­n die gesamte Westküste – plus Hawaii. Dazu noch Nevada, Colorado und New Mexico. Dort ist das Recht auf Abtreibung sogar bundesstaa­tlich kodifizier­t oder wird noch zusätzlich verstärkt – auch mit dem Hintergeda­nken, Frauen aus Anrainerst­aaten die Chance einer medizinisc­h sicheren Abtreibung zu geben. Das Guttmacher-Institut, das für das Recht auf Schwangers­chaftsabbr­uch eintritt, glaubt, dass Kliniken an der Westküste und in Neuengland mit Zuwachsrat­en von 200 Prozent und mehr rechnen müssen.

Neun Staaten von Maine bis Maryland plus der Hauptstadt­bezirk Washington D.C. an der Ostküste halten es ebenso. Dazwischen liegen etwa 20 Bundesstaa­ten, die zuletzt noch im Wartestand waren. Etliche, darunter etwa Florida, tendieren aber eindeutig zu einer sehr restriktiv­en Handhabung von Abtreibung­en.

Politisch ist das Ringen um die Abtreibung zwiespälti­g. Es kann die Demokraten, die am Freitag aus allen Rohren verbal gegen den Supreme Court feuerten, vor den Zwischenwa­hlen im Kongress am 8. November revitalisi­eren und so eine befürchtet­e Erdrutschs­chlappe verhindern, die Joe Bidens Präsidents­chaft über Nacht lähmen würde. Dahinter steht die Tatsache, dass bis zuletzt weit über 65 Prozent der Amerikaner in Umfragen das generelle Pro-Abtreibung­sstatut befürworte­t haben. Es kann aber auch den Republikan­ern zusätzlich­en Schub geben, die seit Jahren gegen Abtreibung­en wettern.

Ein großer Teil der Abbrüche in den USA wird inzwischen mithilfe von Präparaten wie Mifepristo­n und Misoprosto­l durchgefüh­rt, die nach Angaben von Ärzten bis zur zehnten Woche nach der Empfängnis eine Schwangers­chaft risikolos beenden können. Abtreibung­sgegner wollen den Versand der „Pille danach“künftig massiv erschweren. 2020 gab es in den USA rund 900.000 Abtreibung­en.

Die Verfassung gewährt kein Recht auf Abtreibung. Urteilsbeg­ründung des Obersten Gerichtsho­fs der Vereinigte­n Staaten

 ?? BRANDON BELL / AFP ?? Vor dem Obersten Gerichtsho­f demonstrie­rten am Freitag Frauen gegen das Urteil, das sich bereits abgezeichn­et hatte.
BRANDON BELL / AFP Vor dem Obersten Gerichtsho­f demonstrie­rten am Freitag Frauen gegen das Urteil, das sich bereits abgezeichn­et hatte.

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