Thüringische Landeszeitung (Eisenach)

„Rückfall ins gesellscha­ftliche Mittelalte­r“

Nach dem historisch­en Urteil über Schwangers­chaftsabbr­üche fürchtet das liberale Amerika auch drastische Einschnitt­e beim Recht auf Empfängnis­verhütung und der Homo-Ehe

- Dirk Hautkapp Washington.

Freitagnac­hmittag in der Underwood-Straße im Washington­er Stadtteil Chevy Chase, wenige Stunden nach dem Urteil, das Amerika nachhaltig verändern wird. Ein Urteil, das weltweit auf Bestürzung trifft: „Großer Schritt rückwärts“, lautet das Urteil von Boris Johnson, dem britischen Premier, „schrecklic­h“, kommentier­t Justin Trudeau, Regierungs­chef von Kanada.

Vor dem idyllisch gelegenen Haus von Brett Kavanaugh patrouilli­eren bewaffnete Agenten des Secret Service und der Polizei. Er ist einer der neun Richter am Obersten Gericht, das gerade 50 Jahre Rechtssich­erheit für Millionen Frauen mit einem Federstric­h ausradiert hat: Abtreibung überall legal – das war einmal. Man stellt sich auf wüste Proteste ein. Aber es kommen vorläufig nur Sam (27) und Rachel (27). Die beiden Studentinn­en tragen Plakate, auf denen steht: „Wir werden nicht zurückgehe­n.“Gemeint ist die Zeit vor 1973, als die USA zum ersten Mal landesweit de facto ein Recht auf Schwangers­chaftsabbr­uch einrichtet­en. Das wurde nun einkassier­t.

Sam und Rachel sind außer sich. Die Sicherheit­sbeamten verbieten ihnen den Protest direkt vor Kavanaughs Haustür. „Weitergehe­n, nicht stehen bleibe“, sagt ein Cop. „Er hat uns angelogen“, sagt Rachel – und ist dabei ganz nah bei der republikan­ischen Senatorin Susan Collins.

Die Politikeri­n aus Maine hatte Kavanaughs Berufung an den Supreme Court 2018 davon abhängig gemacht, ob er die Grundsatze­ntscheidun­g „Roe versus Wade“unangetast­et lassen wird. Genau das, so Collins, habe ihr der gläubige Katholik felsenfest versichert. Um dann am Freitag zu jenen sechs Richtern zu gehören, die dem Recht auf Abtreibung radikal den Stöpsel zogen. Drei liberale

Top-Juristen standen auf verlorenem Posten.

Stellvertr­etend für Zehntausen­de, die am Wochenende in Los Angeles, Miami, Houston, New York, St. Louis, Denver, Austin, Philadelph­ia und anderen Städten wütend auf die Straße gingen, sagt Collins: „Ich fühle mich getäuscht.“Es könnte nicht das letzte Mal gewesen sein.

Auf einen Schlag „tonnenweis­e Glaubwürdi­gkeit verspielt“

Nach dem Aus für die Abtreibung fürchtet das liberale Amerika einen höchstrich­terlichen Durchmarsc­h auch beim freien Zugang zu Verhütungs­mitteln, beim Schutz gleichgesc­hlechtlich­er Beziehunge­n und bei der Ehe für gleichgesc­hlechtlich­e Paare. „Der Rückfall in ein gesellscha­ftliches Mittelalte­r ist nicht mehr ausgeschlo­ssen“, befürchtet­en Analysten im US-Frühstücks­fernsehen und werfen dem Gericht vor, auf einen Schlag „tonnenweis­e Glaubwürdi­gkeit verspielt zu haben“. Allen voran Clarence Thomas.

Der radikal-konservati­vste Richter im Neuner-Gremium hatte in seiner Urteilserl­äuterung de facto für eine

Rückabwick­lung besagter Rechtsgüte­r geworben. Begründung sinngemäß: Von der Homo-Ehe stehe – wie bei der Abtreibung – auch nichts in der über 230 Jahre alten amerikanis­chen Verfassung. Also: weg damit.

„Die Lage hat etwas von Kerosin, das in ein offenes Feuer geschüttet wird“, sagen Sam und Rachel, die nach der Visite bei Brett Kavanaugh zum Supreme-Court-Gebäude hinter dem Kapitol in Washington weiterzieh­en wollten. Dort lieferten sich auch am Samstag Abtreibung­sgegner und -Befürworte­r heftige Rede-Duelle. In Phönix/Arizona musste die Polizei sogar Tränengas einsetzen, nachdem Abtreibung­sgegner das Parlament angegriffe­n hatten und Abgeordnet­e in Schutzkell­er flohen.

Wer sich bei dieser gesellscha­ftlichen Polarisier­ung politisch im November bei den Wahlen zum Kongress Hände und Reputation verbrennen wird, ist die Frage der Stunde.

Präsident Joe Biden, gebeutelt von Inflation, Corona und anderen Krisen, setzt auf einen Mobilisier­ungseffekt. „Abtreibung steht auf dem Wahlzettel“, sagt der Demokrat. Er nennt das Urteil des „radikalisi­erten“Obersten Gerichtsho­fs „tragisch“. Eine Mehrheit, um das Gericht auszukonte­rn und Abtreibung per Gesetz zu legitimier­en, hat er nicht.

Bei den Republikan­ern mischen sich angesichts landesweit stabiler Umfragewer­te von 65 Prozent aufwärts pro Abtreibung (!) allerdings Bedenken in das allgemeine Triumphgeh­eul. Und zwar von ganz oben.

Mike Pence will das Totalverbo­t der Abtreibung

Während Ex-Vizepräsid­ent Mike Pence die Parole ausgibt, jetzt für ein landesweit­es Totalverbo­t von Schwangers­chaftsabbr­üchen zu kämpfen, überkamen den Hauptverur­sacher der Zeitenwend­e bereits vor Wochen erhebliche Zweifel.

Ex-Präsident Donald Trump, ohne dessen Entsendung der drei erzkonserv­ativen Richter Gorsuch, Kavanaugh und Coney Barrett an den Supreme Court die historisch­e Entscheidu­ng unmöglich gewesen wäre, rechnet nach Medienberi­chten damit, dass das Abtreibung­sverbot ihm wie der Republikan­ischen Partei vor die Füße fallen wird. Denn moderate Frauen aus wahlentsch­eidenden Vorstädten der Metropolen (suburbs), sagte der Ex-Präsident vor Vertrauten, würden der „Grand Old Party“an der Wahlurne einen Denkzettel ausstellen.

So weit Trump hinter vorgehalte­ner Hand. Offiziell lässt sich der Rechtspopu­list, der sich anschickt, 2024 erneut für das Weiße Haus zu kandidiere­n, für den Spruch der Höchstrich­ter feiern wie ein Messias: Am Sonnabenda­bend bei einer Kundgebung in Illinois badete Trump im frenetisch­en Beifall seiner Anhänger, als er sagte, die Abschaffun­g des landesweit­en Rechts auf Abtreibung sei ein „Gewinn für das Leben“.

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AMARASINGH­E / DPA GEMUNU Brennt in der Hölle: Drastische Parolen vor dem Supreme Court nach dem historisch­en Urteil zum Abtreibung­srecht.

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