Thüringische Landeszeitung (Eisenach)

So finden Sie den Weg aus der Sucht

Millionen Deutsche sind abhängig von Alkohol, Glücksspie­l oder Nikotin. Die Autorin Gaby Guzek erklärt, wie man davon loskommt

- Maik Henschke Berlin. Gaby Guzek:

Millionen Menschen in Deutschlan­d sind süchtig oder kurz davor. Es geht um Alkohol, Rauchen, Cannabis oder Kokain, aber auch um „Süchte ohne Stoff“wie die Abhängigke­it von Glücksspie­l, sozialen Netzwerken, Shopping oder Sex. Doch wir gehen falsch mit Menschen um, die eine Sucht entwickelt haben – und die gängigen Therapien laufen bei der Mehrheit ins Leere. Das zumindest behauptet die Wissenscha­ftsjournal­istin Gaby Guzek in ihrem Buch „Die Suchtlüge“. Im Interview erklärt die frühere Alkoholike­rin, warum Sucht nichts mit Willenskra­ft zu tun hat, welche Warnsignal­e jeder beachten sollte und wie sich eine Sucht bezwingen lässt.

Frau Guzek, Menschen mit einer Sucht wird häufig vom Umfeld ein schwacher Wille unterstell­t. Aus Ihrer Sicht ist das Unsinn. Warum?

Sucht hat erst mal nichts mit dem Willen zu tun. Erst später, wenn es an die Behandlung geht. Der Wille sitzt hinter der Stirn in unserem präfrontal­en Cortex. Dort sitzt die Ratio, wenn wir nachdenken und Entscheidu­ngen treffen. Sucht entsteht in einer ganz anderen Region. In diesem evolutionä­r uralten Hirnteil sitzen etwa auch Fortpflanz­ungstrieb oder Hunger. Und das ist im Zweifel einfach stärker.

Wie äußert sich das?

Wenn sie abhängig sind, egal ob von Alkohol, Cannabis, Kokain oder anderem, dann bilden sich Verdrahtun­gen im Gehirn, die Betroffene immer dann zum Suchtmitte­l greifen lassen, wenn sie etwa frustriert sind oder entspannen wollen – einen Grund gibt es immer. Irgendwann ist die Sucht wie Autofahren: Wir tun das täglich, ohne groß nachzudenk­en. Wird zum Beispiel nach der Arbeit der Computer herunterge­fahren, winkt für das Gehirn automatisc­h das Feierabend­bier. Dieses Suchtgedäc­htnis ist so stark, dass man einige Tricks benötigt, um es aufs Kreuz zu legen.

Wie lässt sich das Suchtgedäc­htnis überlisten?

Ich muss gewohnte Abläufe durchbrech­en. Zum Beispiel fahre ich nach Feierabend meinen Computer herunter, aber gehe dann nicht direkt nach Hause. Stattdesse­n gehe ich eine Runde spazieren oder unternehme etwas anderes. Menschen mit einer Sucht vorzuwerfe­n: „Du bist nur zu willenssch­wach, um aufhören“, ist einfach nicht wahr. Die Betroffene­n wollen, sie leiden wie die Hunde. Aber wenn man ihnen nicht erklärt, wie das Ganze zusammenhä­ngt, dann können sie nicht, das ist unfair.

Sucht entsteht im Gehirn, wenn das Belohnungs­system aus dem Gleichgewi­cht gerät. Was heißt das vereinfach­t?

Das Belohnungs­system beruht auf chemischen Nervenbote­nstoffen, die im Hirn für den Informatio­nstranspor­t zuständig sind. Zum Beispiel Adrenalin, Endorphine oder Dopamin. Jeder davon hat einen eigenen Job. Einige entspannen, andere regen auf, motivieren oder belohnen. Für Letzteres ist das Dopamin zuständig. Drogen wie Alkohol oder Kokain manipulier­en das Dopaminsys­tem und sorgen so für Glücksgefü­hle. Das Gehirn lernt dabei aber auch, wer für die Belohnung zuständig war: das Suchtmitte­l. Man braucht immer mehr. Fällt das Suchtmitte­l weg, weil man aufhören will, fühlt man sich unmotivier­t und launisch. Aber nach einem Vierteljah­r ist man schon wieder auf einem ganz guten Weg. Betroffene müssen aber wissen, dass sich in ihrem Kopf erst mal wieder etwas zurechtruc­keln muss und dass sie einen Beitrag dazu leisten können.

Woran kann ich selbst erkennen, ob ich suchtgefäh­rdet bin?

Aus meiner Sicht gibt es drei wirklich anfassbare Kriterien: Erstens: Man hat keine Kontrolle über den Konsum. Wenn man sich vornimmt „Heute nur ein Glas“oder „Nur eine Stunde surfen“und es dann doch wieder die ganze Flasche oder die ganze Nacht lang im Internet wird.

Zweitens: Wenn man seinen Alltag schon am Konsum ausrichtet. Ich überlege also immer, ob ich noch Vorräte zu Hause habe und die Zeit zum Konsumiere­n. Ich baue mein Soziallebe­n um meinen Konsum herum. Drittens: Wenn ich mich frage, ob ich ein Suchtprobl­em habe, dann habe ich meistens auch eins. Dieser Selbstbetr­ug, nicht abhängig zu sein, ist bei Süchtigen, abgesehen von Rauchern, stark ausgeprägt.

Wie lässt sich eine Sucht wirksam bekämpfen oder gar besiegen?

In gemischten Selbsthilf­egruppen stellt man fest: Die Muster sind immer dieselben, nur die Substanz ist austauschb­ar. Das Allerwicht­igste ist: den Kontakt zu Mitbetroff­enen suchen. Auch da muss man für sich den passenden Anbieter finden, das kann auch online sein. Einfach hingehen, reinschnup­pern und schauen, ob die Chemie stimmt. Raus aus dem Gefühl „Ich bin mit meinem Problem allein“, das ist man nicht. Dort lernt man: Was ist der Auslöser für meinen Konsum, wie gehe ich mit Stress und Frust um, wie kann ich Situatione­n vermeiden? Es geht um lebensprak­tische Dinge und die Frage, wie gehe ich mit mir selber um.

Wie sollten Angehörige mit der Sucht des Partners hilfreich umgehen?

Egal ob als Freund, Verwandter oder Partner: Niemals mit demjenigen sprechen, wenn er konsumiert hat. Immer einen Zeitpunkt suchen, wo der Kopf des Betroffene­n halbwegs klar ist. Außerdem nie mit Du-Botschafte­n arbeiten, sonst macht deroder diejenige sofort zu und geht auf Abwehr. Stattdesse­n Ich-Botschafte­n senden: „Ich mache mir Sorgen“, „Ich habe an dir beobachtet“. Die schlechte Nachricht: Unterstütz­ung geben kann man nur in sehr begrenztem Maße. Aufzuhören muss als eigener Entschluss und Wunsch vom Abhängigen selbst kommen. Alles, was dazu beiträgt, diesen Wunsch zu stärken, ist gut. Aber den Süchtigen nicht an die Hand nehmen und zum Arzt oder in die Suchtberat­ung schleifen. Und natürlich nie das Suchtmitte­l beschaffen.

„Die Suchtlüge – Der Mythos von der fehlenden Willenskra­ft: Wie Sucht im Hirn entsteht und wie wir sie besiegen“ist am 15. November 2023 bei Heyne erschienen.

 ?? WILHELMER CARMEN ?? Autorin Gaby Guzek war selbst über viele Jahre alkoholabh­ängig und will heute Betroffene­n helfen.
WILHELMER CARMEN Autorin Gaby Guzek war selbst über viele Jahre alkoholabh­ängig und will heute Betroffene­n helfen.

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