Thüringische Landeszeitung (Eisenach)
So finden Sie den Weg aus der Sucht
Millionen Deutsche sind abhängig von Alkohol, Glücksspiel oder Nikotin. Die Autorin Gaby Guzek erklärt, wie man davon loskommt
Millionen Menschen in Deutschland sind süchtig oder kurz davor. Es geht um Alkohol, Rauchen, Cannabis oder Kokain, aber auch um „Süchte ohne Stoff“wie die Abhängigkeit von Glücksspiel, sozialen Netzwerken, Shopping oder Sex. Doch wir gehen falsch mit Menschen um, die eine Sucht entwickelt haben – und die gängigen Therapien laufen bei der Mehrheit ins Leere. Das zumindest behauptet die Wissenschaftsjournalistin Gaby Guzek in ihrem Buch „Die Suchtlüge“. Im Interview erklärt die frühere Alkoholikerin, warum Sucht nichts mit Willenskraft zu tun hat, welche Warnsignale jeder beachten sollte und wie sich eine Sucht bezwingen lässt.
Frau Guzek, Menschen mit einer Sucht wird häufig vom Umfeld ein schwacher Wille unterstellt. Aus Ihrer Sicht ist das Unsinn. Warum?
Sucht hat erst mal nichts mit dem Willen zu tun. Erst später, wenn es an die Behandlung geht. Der Wille sitzt hinter der Stirn in unserem präfrontalen Cortex. Dort sitzt die Ratio, wenn wir nachdenken und Entscheidungen treffen. Sucht entsteht in einer ganz anderen Region. In diesem evolutionär uralten Hirnteil sitzen etwa auch Fortpflanzungstrieb oder Hunger. Und das ist im Zweifel einfach stärker.
Wie äußert sich das?
Wenn sie abhängig sind, egal ob von Alkohol, Cannabis, Kokain oder anderem, dann bilden sich Verdrahtungen im Gehirn, die Betroffene immer dann zum Suchtmittel greifen lassen, wenn sie etwa frustriert sind oder entspannen wollen – einen Grund gibt es immer. Irgendwann ist die Sucht wie Autofahren: Wir tun das täglich, ohne groß nachzudenken. Wird zum Beispiel nach der Arbeit der Computer heruntergefahren, winkt für das Gehirn automatisch das Feierabendbier. Dieses Suchtgedächtnis ist so stark, dass man einige Tricks benötigt, um es aufs Kreuz zu legen.
Wie lässt sich das Suchtgedächtnis überlisten?
Ich muss gewohnte Abläufe durchbrechen. Zum Beispiel fahre ich nach Feierabend meinen Computer herunter, aber gehe dann nicht direkt nach Hause. Stattdessen gehe ich eine Runde spazieren oder unternehme etwas anderes. Menschen mit einer Sucht vorzuwerfen: „Du bist nur zu willensschwach, um aufhören“, ist einfach nicht wahr. Die Betroffenen wollen, sie leiden wie die Hunde. Aber wenn man ihnen nicht erklärt, wie das Ganze zusammenhängt, dann können sie nicht, das ist unfair.
Sucht entsteht im Gehirn, wenn das Belohnungssystem aus dem Gleichgewicht gerät. Was heißt das vereinfacht?
Das Belohnungssystem beruht auf chemischen Nervenbotenstoffen, die im Hirn für den Informationstransport zuständig sind. Zum Beispiel Adrenalin, Endorphine oder Dopamin. Jeder davon hat einen eigenen Job. Einige entspannen, andere regen auf, motivieren oder belohnen. Für Letzteres ist das Dopamin zuständig. Drogen wie Alkohol oder Kokain manipulieren das Dopaminsystem und sorgen so für Glücksgefühle. Das Gehirn lernt dabei aber auch, wer für die Belohnung zuständig war: das Suchtmittel. Man braucht immer mehr. Fällt das Suchtmittel weg, weil man aufhören will, fühlt man sich unmotiviert und launisch. Aber nach einem Vierteljahr ist man schon wieder auf einem ganz guten Weg. Betroffene müssen aber wissen, dass sich in ihrem Kopf erst mal wieder etwas zurechtruckeln muss und dass sie einen Beitrag dazu leisten können.
Woran kann ich selbst erkennen, ob ich suchtgefährdet bin?
Aus meiner Sicht gibt es drei wirklich anfassbare Kriterien: Erstens: Man hat keine Kontrolle über den Konsum. Wenn man sich vornimmt „Heute nur ein Glas“oder „Nur eine Stunde surfen“und es dann doch wieder die ganze Flasche oder die ganze Nacht lang im Internet wird.
Zweitens: Wenn man seinen Alltag schon am Konsum ausrichtet. Ich überlege also immer, ob ich noch Vorräte zu Hause habe und die Zeit zum Konsumieren. Ich baue mein Sozialleben um meinen Konsum herum. Drittens: Wenn ich mich frage, ob ich ein Suchtproblem habe, dann habe ich meistens auch eins. Dieser Selbstbetrug, nicht abhängig zu sein, ist bei Süchtigen, abgesehen von Rauchern, stark ausgeprägt.
Wie lässt sich eine Sucht wirksam bekämpfen oder gar besiegen?
In gemischten Selbsthilfegruppen stellt man fest: Die Muster sind immer dieselben, nur die Substanz ist austauschbar. Das Allerwichtigste ist: den Kontakt zu Mitbetroffenen suchen. Auch da muss man für sich den passenden Anbieter finden, das kann auch online sein. Einfach hingehen, reinschnuppern und schauen, ob die Chemie stimmt. Raus aus dem Gefühl „Ich bin mit meinem Problem allein“, das ist man nicht. Dort lernt man: Was ist der Auslöser für meinen Konsum, wie gehe ich mit Stress und Frust um, wie kann ich Situationen vermeiden? Es geht um lebenspraktische Dinge und die Frage, wie gehe ich mit mir selber um.
Wie sollten Angehörige mit der Sucht des Partners hilfreich umgehen?
Egal ob als Freund, Verwandter oder Partner: Niemals mit demjenigen sprechen, wenn er konsumiert hat. Immer einen Zeitpunkt suchen, wo der Kopf des Betroffenen halbwegs klar ist. Außerdem nie mit Du-Botschaften arbeiten, sonst macht deroder diejenige sofort zu und geht auf Abwehr. Stattdessen Ich-Botschaften senden: „Ich mache mir Sorgen“, „Ich habe an dir beobachtet“. Die schlechte Nachricht: Unterstützung geben kann man nur in sehr begrenztem Maße. Aufzuhören muss als eigener Entschluss und Wunsch vom Abhängigen selbst kommen. Alles, was dazu beiträgt, diesen Wunsch zu stärken, ist gut. Aber den Süchtigen nicht an die Hand nehmen und zum Arzt oder in die Suchtberatung schleifen. Und natürlich nie das Suchtmittel beschaffen.
„Die Suchtlüge – Der Mythos von der fehlenden Willenskraft: Wie Sucht im Hirn entsteht und wie wir sie besiegen“ist am 15. November 2023 bei Heyne erschienen.