Thüringische Landeszeitung (Eisenach)
Erstaunliche Verbindungen
„Wäre ich ein Pflasterstein, dann könnt’ ich bald in Marburg sein.“Der Spruch, der damals im DDR-Volksmund bei aufkommenden Demonstrationen tönte und mit Farbe an Mauern neben schlaglochverhauenen Straßen gepinselt prangte, klingt mir oft im Ohr, wenn ich zu Besuch meiner Tante in unsere Partnerstadt fahre. Er stand sinnbildhaft dafür, dass Produkte und Baumaterialien Ende der 1980er-Jahre von den Devisenbeschaffern gen Klassenfeind exportiert wurden, während die Menschen im Osten noch nicht einmal Reisefreiheit genießen durften.
Ich fragte mich als Kind oft, was die wohl mit diesen ollen Steinen da in Marburg vorhaben, denn das Geholper und Gepolter über eben diese konnte ja wohl keiner freiwillig als Straße verbauen wollen.
Wie ich einem Spiegel-Artikel von 1988 entnehme, wurden bereits ein Jahr zuvor kilometerweise diese handbehauenen Prunkstücke im Wert von rund 5,5 Millionen DMark von Oststraßen entfernt, um unter anderem mittelalterliche Altstädte in der alten Bundesrepublik aufzuwerten.
Genau in dieser Zeit, vor 35 Jahren, wurde der Städtepartnerschaftsvertrag zwischen Eisenach und Marburg auf der Wartburg geschlossen. Vieles verbindet die beiden Städte, die eine der ersten deutsch-deutschen
Städtepartnerschaften auf kommunaler Ebene verzeichnen können, vom Mittelalter bis heute und – bis in meine Familie hinein.
Bei meinem vorweihnachtlichen Ausflug am vergangenen Wochenende berichtete mir meine Tante, wie sie durch Elisabeth – die Jugendfreundin meines Opas – hierher kam. Franz und Elisabeth wuchsen gemeinsam in einem kleinen böhmischen Dorf auf, kamen als Flüchtlingskinder nach Deutschland und in Eisenach trennten sich ihre Wege. Elisabeth kam nach Marburg, mein Opa blieb in Eisenach.
Ein rauschendes Fest im Marburg der 1990er-Jahre
Nachdem nun seit 1989 nicht nur die Pflastersteine, sondern auch die Menschen nach Marburg durften, stand einem Wiedersehen nichts mehr im Wege. Bei einem Familientreffen 1990 lernten sich Elisabeths Sohn und Franz’ Tochter (meine Tante) kennen. Meine Tante zog schon bald darauf nach Marburg und sie heirateten 1991. Wie der Standesbeamte damals uns Hochzeitsgästen mitteilte, handelte es sich wohl um die erste städtepartnerschaftliche Eheschließung. Ich erinnere mich an ein rauschendes Fest im Marburg der 1990er-Jahre mit Popelinekleidern und Dauerwellen, Entführung der Braut auf den Spiegelslustturm und ganz vielen Gästen aus beiden Städten.
Meine Tante lebt seit nunmehr 33 Jahren gerne in der Partnerstadt. Eisenach sei hier immer präsent gewesen, sagt sie, zum Beispiel, wenn eine alljährliche Delegation zum Sommergewinn fährt. Es werde immer warmherzig über die Partnerstadt gesprochen und sie fühle sich auch als Kind beider Städte.
Erstaunliche Querverbindungen findet man eben nicht nur in städtebaulich-nostalgischen Gesteinen, sondern auch in den kleinen persönlichen Lebensgeschichten, von denen es zwischen beiden Städten sicher noch einige zu erzählen gäbe – denke ich – und steige unterhalb des Schlossbergs auf pflastersteingesäumten Gassen der Marburger Oberstadt hinab in Richtung Elisabethkirche. Hier schießen Influencer:innen authentische Fotos von mittelalterlichen deutschen Städten – vom Pflasterstein bis zur Kirchturmspitze passt hier alles perfekt ins Bild, fast genauso wie in unserer Stadt.