Thüringische Landeszeitung (Eisenach)
Ein folgenreiches Attentat
Thüringer Zeitungsgeschichte: Das liberale „Deutschland“aus Weimar fürchtet zu Bismarcks Zeiten die „sozialistische Gefahr“
Was sich am 2. Juni 1878 in Berlin „Unter den Linden“ereignete, birgt den Stoff für einen modernen Thriller: Kaiser Wilhelm I. fuhr, nichtsahnend, im offenen Wagen durch die Prachtstraße der deutschen Hauptstadt, als gegen 14.30 Uhr plötzlich zwei Schüsse knallten. Blutüberströmt sackte der Regent in seiner Kutsche zusammen. Ganze 30 Schrotkugeln steckten in seinem Körper, die nur teilweise entfernt werden konnten. Der Kaiser war demnach schwer an Kopf, beiden Armen und am Rücken verwundet worden und wäre wohl gestorben, wenn er nicht einen schweren Mantel und den „Helm mit Spitze“, wie die „Pickelhaube“offiziell hieß, getragen hätte.
Da schnell festgestellt wurde, dass die Schüsse aus dem Haus Nr. 18 „Unter den Linden“kamen, stürmte Polizei die Wohnung des Attentäters, der sich dort verschanzte und auf die Beamten schoss. Der Schütze versuchte sich noch mit einem Revolverschuss selbst zu richten, was aber misslang. Später unternahm er einen zweiten Suizidversuch und starb, bevor ihm der Prozess gemacht werden konnte.
Interessant ist nun, wie schnell Zeitungen wie die „Deutschland“aus Weimar in nahezu sämtlichen Details über das Kaiser-Attentat bezialdemokratische richteten. Nur einen Tag nach dem Ereignis liest man dort, dass es der Landwirt Dr. Karl Eduard Nobiling war, der auf den Kaiser geschossen hatte. Bei seiner Vernehmung gab er laut der „Deutschland“an, dass er „sozialdemokratischen Tendenzen huldige, auch wiederholt hier soVeranstaltungen beigewohnt“habe.
Die heutige Forschung geht davon aus, dass der Täter psychisch krank war. Ein eindeutiger Zusammenhang mit der Sozialdemokratie konnte nicht nachgewiesen werden. Brisant war nun, dass nur drei Wochen vor diesem Attentat bereits ein Mordanschlag auf den Kaiser unternommen worden war, der ebenfalls misslang. Mitte Mai hatte der Leipziger Klempnergeselle Max Hödel zwei Mal mit einem Revolver auf Wilhelm I. geschossen, doch die Kugeln verfehlten ihr Ziel. Hödel war nur kurze Zeit zuvor aus der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) ausgeschlossen worden.
Otto von Bismarck nahm diese beiden Attentate nun zum Anlass, um gegen die „Sozialisten“aktiv vorzugehen, da er ihnen die Schuld an den Anschlägen gab. Dem Reichskanzler gelang es, die Ängste vor einer Arbeiterrevolution in Deutschland zu schüren, was schließlich damit endete, dass Bismarck Mitte Oktober 1878 mit den Stimmen der Konservativen und Nationalliberalen im Reichstag das „Sozialistengesetz“durchbrachte. Dieses richtete sich „wider die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“. Faktisch waren damit sämtliche sozialistische Parteien und Organisationen, deren Versammlungen und Druckschriften
verboten. Interessant ist in dieser Beziehung eine Meldung der „Deutschland“vom 23. Oktober 1878, in der es inhaltlich um die Umbenennung sozialistischer Zeitungen geht, die so einem Verbot zuvorkommen wollten. Das Weimarer Blatt sah dabei die Gefahr, in einen Topf mit den nun „angepassten“Zeitungen geworfen zu werden. Die „sozialistische Gefahr“würde demnach unter „falscher Flagge“auch liberale Zeitungen wie die „Deutschland“bedrohen, daher wären Verbote derselben nur konsequent.
Erst 1890 lief das „Sozialistengesetz“aus, sodass sich die Sozialistische Arbeiterpartei (SAP) als SPD unmittelbar danach neu gründete.