Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
„Seht ihr dieses Chaos!?“
Das Weimarer Nationaltheater spielt George Taboris groteskes und großartiges Welttheater „Die GoldbergVariationen“
WEIMAR. Das Mutterbild muss weg! Es gehört in eine andere Inszenierung. So stürzen sie das hohe Standbild der Göttin Isis mit dem Kinde. Die Bühne muss leer sein und jungfräulich wirken, wenn Er kommt.
Es braucht Platz für den in seiner Abwesenheit stets anwesenden Vater, den sie „aus der Versenkung“hervorholen. Er ist der Herr über diese Bühnenwelt, aber längst nicht mehr Herr des Verfahrens, da ihm seine Schöpfung entglitten ist.
Doch er will es noch mal wissen, noch mal versuchen. Alles auf Anfang. Auftritt Mr. Jay, der Autor, der Spielmacher, der erste der Schauspieler. Da versagt die Beleuchtung.
Er ruft „Licht!“– und es wird Licht. Und er sieht, dass nichts gut, nichts besser werden wird. „Ich habe euch Perfektion versprochen“, ruft er einmal. „Seht ihr dieses Chaos!?“
Das hier ist kein Stück über Gott. Es ist aber auch ein Stück über Gott. Das hier ist kein Stück über das Theater. Es ist aber auch ein Stück über das Theater. Das eine gerinnt dabei zur Metapher des anderen.
„Die Goldberg-Variationen“sind das Großartigste, das Außergewöhnlichste, was in jüngeren Zeiten fürs deutschsprachige Theater geschrieben wurde. George Tabori tat es, ein dem Ursprung nach jüdischer Ungar. Er schrieb es 1991 und brachte es selbst zur Uraufführung, mit 77.
Theater und Bibelparodie, aber auch eine Tragödie
Darin wird, in einem Jerusalemer Theater, die heilige Schrift inszeniert: Genesis und Evangelium, Menschwerdung und Kreuzigung, Moses und Jesus, Judentum und Christentum. Jay alias Jahwe, alttestamentarischer Gott, orthodoxer Regisseur, hat einen Plan, der nicht aufgeht, weil da Menschen sind, Schauspieler, mit eigenen Plänen. Er hat sie auserwählt, aber sie wollen nicht.
Das gilt erst recht für Goldberg, den Assistenten, den Knecht, den Holocaust-Überlebenden, der sich zu emanzipieren beginnt. Dahinter steht die Frage Jesu, den er spielen muss: Mein Gott, warum hast du mich verlassen? Es ist zugleich die Frage: Wo war Gott in Auschwitz? (Dort kam auch Taboris Vater um.)
In dieser Groteske steckt so viel. Sie ist eine Theaterparodie und eine Bibelparodie, ohne die sie nicht funktionierte; sie funktionierte auch nicht, gewönne beides Oberhand. Denn da gibt’ auch eine Tragödie der gott- und vaterlosen Gesellschaft.
Man muss dieses Stück flirren lassen im gleißenden Licht einer Sandwüste, die Oliver Helfs Weimarer Bühne vor Rundhorizont ebenso zu assoziieren vermag wie helle Bretter, die die Welt bedeuten, inklusive einer abschüssigen Rampe. In diesem Flirren würde nie erkennbar oder entscheidbar, wer hier gerade auftritt und redet: ein Gott, ein Regisseur, ein Vater; ein Sohn Gottes, ein Regieassistent, ein Jude, ein Knecht.
Thomas Dannemanns Inszenierung am Weimarer Nationaltheater, die den Text ohne viel Zugewinn aktualisierend aufmotzt, hält sehr gut, die Balance zwischen allen Ebenen. Ein Flirren gelingt ihr eher selten.
Einmal aber ist es da: in der Vertreibung aus dem Paradies. Da will Terese, Schauspielerin und Jays ExGeliebte (eine zugleich zornig zupackende und verletzliche Simone Müller), Eva nicht nackt spielen. Als es nicht bei mentaler Nachhilfe vom Kollegen Raamah (Thomas Kramer) bleibt und zum Äußersten kommt, fallen bei Sebastian Kowski Gotteszorn und Liebesschmerz in eins.
Allein schon durch die altersmäßige Besetzung denkt Dannemann derweil, was durchaus nicht die Regel ist, die Vater-Sohn-Ebene mit. Kowski spielt einen abgeranzten Dogmatiker, den einsamen, unverstandenen Zyniker, der auch Gott spielt.
Nahuel Häfliger kämpft als Goldberg so devot wie vergeblich um die Liebe eines gütigen und erreichbaren Herrn und Vaters, läuft sich die Füße blutig für ihn, verkriecht sich aber, wenn’ drauf ankommt, waidwund hintern Rock der mütterlichen Putzfrau Mrs. Mopp (Dascha Trautwein spielt sie wunderbar abgeklärt und resolut). Schließlich nimmt er ernüchtert Theater und Leben selbst in die Hand, er (er-)findet die Liebe zum Nächsten in sich.
Johanna Geißler, Bernd Lange und Bastian Heidenreich komplettieren ein der Aufführung komödiantisch dienendes Ensemble, das man für seine Spiellaunen lieben muss. Pianist Philipp Haagen als Engel improvisiert derweil am Flügel und mit der Stimme frech und versunken ganz Neues zum Hauptthema der Bachschen Goldberg-Variationen.