Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Überleben im Gulag

Vor 65 Jahren endet ein Aufstand im berüchtigt­em Lager von Workuta in einem Blutbad – Der Geraer Günther Rehbein muss es als Häftling miterleben

- VON ELENA RAUCH

GERA. Ein Wasserfall springt durch tiefgrünen Wald. Das Foto nimmt eine ganze Wohnzimmer­wand ein. Günther Rehbein folgt dem Besucherbl­ick. Das kommt jetzt weg, er will etwas Neues. Eine Sommerland­schaft vielleicht. Hauptsache Licht. Hauptsache Sonne. Mag sein, diese Sehnsucht hat mit Workuta zu tun. Wer die Hölle aus Eis und Schnee durchlebt hat, wird sie ein Leben lang nicht los.

Als das alles begann, war er 19 Jahre alt. Ein Augustnach­mittag 1952 in Gera, Günther Rehbein war mit seinen Maler-Kollegen an der Arbeit, als ihn die Staatssich­erheit holte. Sie brachten ihn in die sowjetisch­e Militärkom­mandantur. Dort erfuhr er, was sie ihm vorwarfen: Antisowjet­ische Hetze, Spionage, versuchte Diversion.

Er war nie politisch aktiv. Mal eine kritische Äußerung zu den LPG, mal ein Vergleich der vollen Schaufenst­er von Westberlin mit den Lebensmitt­elmarken zu Hause. Aber nichts, was diesen Vorwurf erklären könnte.

Eine Verwechslu­ng, ein Missverstä­ndnis, es wird sich alles aufklären. Er war sich sicher.

Nichts klärte sich auf. Zwei Tage später verbanden sie ihm die Augen und stießen ihn in ein Auto. In Berlin-Karlshorst, im Hauptquart­ier der Militäradm­inistratio­n, begannen die nächtliche­n Verhöre.

Unterschre­ib! Er weigerte sich. Er hatte nichts getan.

Einmal schlug ihm der Vernehmung­soffizier eine Fingerkupp­e ab. Einmal simulierte­n sie auf dem Gefängnish­of seine Hinrichtun­g. Sie drohten, seine Frau zu verhaften. Sein Sohn war anderthalb Jahre alt, das zweite Kind unterwegs. Irgendwann, sagt er, unterschre­ibst du alles. Es würde ja eine Gerichtsve­rhandlung geben, eine Aufklärung. Wie naiv er war. Das Gericht war ein sowjetisch­es Militärtri­bunal. Sie verurteilt­en ihn zu 25 Jahren Lagerhaft. Im Januar 1953 setzten sie ihn in den Zug Richtung Osten.

Seine Frau erfuhr nichts von der Anklage, nichts vom Urteil. Für sie war er verhaftet und verschwund­en.

Jahrzehnte später, als sich die geheimen Archive öffneten, erfuhr er von den vergeblich­en Briefen, die seine Frau damals schrieb. „Sehr geehrter Herr Präsident Wilhelm Pieck...“Aus den Unterlagen und Notizen und Gesprächen rekonstrui­erte er später eine Erklärung. Es muss, sagt er, etwas Persönlich­es gewesen sein, er stand im Wege, war jemandem unbequem geworden. Namen will er nicht nennen. Beweisen lässt es sich ohnehin nicht. Aber der Mensch braucht eine Erklärung. Es wäre das Geringste, worauf er ein Recht hat. Workuta, nördlich des Polarkreis­es. Der Ort,

an dem alle Schienenwe­ge enden. Von dem man in Russland sagt, er sei des Teufels Heimat. Der Ort, der zu einem Synonym für stalinisti­sche Willkür im Namen einer Ideologie wurde. Etwa 70 000 Menschen waren dort gefangen, verteilt auf 36 Lager.

Lager Nummer 10, Schacht 29. So lauteten die Schicksals­koordinate­n von Günther Rehbein.

Eine Holzbarack­e für 60 Häftlinge, karge Nahrungsra­tionen aus Brei und etwas Lebertran. Wecken im Morgengrau­en vom Schlag eines Eisenstock­es gegen Metall. Dann wankten sie anderthalb Kilometer zum Bergwerk. Wenn Schneestür­me die Sicht nahmen, tasteten sie sich an einem Seil entlang. Kriechend holten sie die Kohle aus dem 60 Zentimeter niedrigen Schacht. Nach der Schicht, wenn sie aus dem Schacht krochen, gefror der Schweiß in Sekunden an ihren Körpern. 50 Grad unter Null.

Sie wurden in Arbeitsbri­gaden eingeteilt, der Leiter war einer der Kriminelle­n unter den Häftlingen. Männer, deren Brutalität ein zusätzlich­es Regime der Angst schuf. Eine Hierarchie der Gewalt. Das überlebst du nicht. Junge halte durch, du willst doch nach Hause zurück, hatte ihm Sigurd Binski entgegnet. Der Mithäftlin­g war einer der 64 Deutschen im Lager Nummer 10. Er wurde, sagt Günther Rehbein, mein Lebensrett­er. Sein erster Rat: Lerne Russisch, sonst bist du verloren.

Die Sprache ist bis heute abrufbar, jederzeit. Und nein, er hasst ihren Klang nicht. Und unter den Häftlingen, denen er näher kam, waren auch Russen.

Am 5. März starb Stalin. Gerüchte schlichen durch die Baracken und nährten Hoffnungen. Am Lager-Regime änderte sich zunächst nicht, aber Günther Rehbein erinnert sich an die Erwartung, die über allem hing. An die nächtliche­n Gespräche in den Baracken, an die Vorsicht, weil auch der Verrat ein verlässlic­her Begleiter war. Dann machte die Nachricht vom Aufstand in der DDR am 17. Juni die Runde. Kurze Zeit später wurde die Verhaftung Berias bekannt, dem Innenminis­ter, dem das Gulag-System unterstand.

Die Nachrichte­n armierten die Entschloss­enheit der Häftlinge. Warten genügt nicht. Sie legten die Arbeit nieder. Die Gefangenen verlangten eine Delegation aus Moskau, um ihre Forderunge­n zu verhandeln: Verbesseru­ng der Lebensbedi­ngungen, Überprüfun­g der Urteile. Die Deutschen Häftlinge forderten außerdem Kontakt zu ihren Angehörige­n. Die Moskauer Kommission kam, versprach Verbesseru­ngen, doch die Verhandlun­gen kamen ins Stocken. Die Häftlinge im Lager 10 waren besonders widerständ­ig, sie entwaffnet­en die Lageraufsi­cht. Die Tollkühnhe­it von Verzweifel­ten. Genährt von der Unsicherhe­it, wie es in Moskau jetzt weitergehe­n würde, die auch bei den Wachen des Lagers zu spüren war. Wenn sie den Befehl dazu gehabt hätten, wäre dieser Streik doch schon vor Tagen gewaltsam beendet. Welch trügerisch­e Annahme.

Der 1. August brach an. Günther Rehbein erinnert sich an die Soldaten und die Militärkap­elle, die auf Lkws auf dem Lagerplatz auffuhren. An die Stimme im Lautsprech­er: Wer die Arbeit freiwillig wieder aufnimmt, soll zum Lagerausga­ng gehen.

„Wir wollen Freiheit“, hörte er einen Gefangenen rufen. Ein Schuss explodiert­e in der Luft. Binnen Sekunden folgte ein Kugelhagel vom Eingang her, mitten in die versammelt­en Gefangenen. Dann, erinnert er sich, waren nur noch Chaos und Blut und Schreie. Neben mir fiel der „kleine Jeschke“aus Berlin tot zu Boden. Ich sah, wie Heini Fritsche aus Leipzig ein Schuss ins Gesicht traf. Hinter uns schnitten Soldaten den Stacheldra­ht durch und trieben die Menge zum Ausgang, direkt in die Gewehrsalv­en hinein.

64 Menschen starben in diesem Blutbad. Die Überlebend­en trieb man aus dem Lager mitten die Tundra hinein. Bis zum Abend, erinnert sich Günther Rehbein, mussten sie auf dem Boden hocken. Ich rechnete jede Minute damit, dass sie das Feuer auf uns eröffnen würden.

Er hoffte nur noch, der Tod würde gnädig kommen. Schnell und ohne Schmerz.

Aber der Tod kam nicht. Stunden später trieben sie die Gefangenen zurück in ihre Baracken.

Es änderte sich in den nächsten Monaten tatsächlic­h einiges. Die Gitter wurden von den Fenstern entfernt. Die Nahrungsra­tionen wurden besser. Die Bewacher verhielten sich freundlich­er. Ein Offizier, mit dem er sich unterhielt, sprach vom großen Unrecht unter Stalin.

Im Dezember durfte er eine Postkarte nach Hause schreiben. Ich lebe noch. Jahre später erfuhr er, dass diese Karte nie ihre Adressatin erreicht hatte.

Im fernen Moskau stieg Chruschtsc­how zum Ersten Sekretär des ZK auf. Bis zur seiner berühmten Parteitags­rede, in der er den Stalin-Kult geißelte, sollten noch mehr als zwei Jahre vergehen.

Günther Rehbein musste noch bis 1955 in Workuta ausharren. Im September gehörte er zu den letzten Deutschen im Lager 10, deren Namen über das Megafon für den Abtranspor­t ausgerufen wurden.

Zwei Monate dauerte die Rückfahrt. Als der Zug in Frankfurt/Oder hielt, hatte er die Wahl. Er hätte in den Westen gehen können, aber was sollte er dort. Seine Frau und die Kinder lebten in Gera. Seine Sehnsucht, die ihn am Ende der Welt am Leben gehalten hatte.

Dass es diese Familie für ihn nicht mehr gab, erfuhr noch auf dem Bahnhof in Gera vom Großvater. Seine Frau lebte längst mit einem anderen Mann zusammen. Er hatte Workuta überlebt. Aber der Schatten blieb. Über die Jahre im Gulag durfte er nicht reden. Sie wurden zu einer Leerstelle in seiner Personalak­te, zu einem Makel, der sich an ihn heftete.

Zu 25 Jahren Lagerhaft verurteilt

Vier Jahre Haft für Faustschla­g

Eine Mitarbeit bei der Staatssich­erheit lehnte er ab. Seinen Meister durfte er nicht machen, er hat Toiletten geputzt und in einem Baubetrieb den Hof gekehrt. Er wurde zu einem Unbequemen, einem Lästigen, obwohl er sich nie in diese Rolle gedrängt hatte.

Irgendwann stellte er einen Ausreisean­trag, was sollte er noch hier. 1968 begegnete er zufällig dem Stasi-Mann, der ihn damals verhaftet hatte. Erstaunlic­h, dass sie dich nicht erschossen haben, hatte der zu ihm gesagt. Da konnte er nicht anders. Er schlug zu. Vier Jahre saß er danach in Bautzen.

Vor zehn Jahren schenkte ihm das Leben ein ungeahntes Glück: Seine Tochter Christine fand ihn wieder. Ein Verwandter hatte Günther Rehbein in einem Lokalferns­ehen gesehen, wo er seine Geschichte erzählte.

Jahrelang hatte sie ihre Mutter nach ihrem Vater gefragt. Jahrelang wurde ihr eine Antwort verweigert. Ein Kriminelle­r sei er. Gut, dass sie ihn nicht kenne.

Und dann dieses Schicksal. Sie hat, sagt die Tochter, ein Jahr gebraucht, um das alles zu verarbeite­n. Sie fand seinen Namen im Telefonbuc­h und rief an. Vater. Ich bin deine Tochter. Günther Rehbein kämpft mit den Tränen. Sie lebte damals in Baden-Württember­g, inzwischen ist sie nach Gera gezogen. Sie sehen sich oft.

Ihr Vater holt ein Papier hervor. Das Schreiben vom 6. Juni 1995 ist aus Moskau, von der Generalsta­atsanwalts­chaft der Russischen Föderation. Die Urkunde über seine Rehabilita­tion.

Was kann es schon wert sein, dieses Stück Papier, nach all den zerstörten Lebensjahr­en? Einiges, widerspric­ht er. Es schwarz auf weiß zu sehen: Ich bin unschuldig.

Er hat ein Buch über diese Jahre geschriebe­n: Gulag und Genossen: Aufzeichnu­ngen eines Überlebend­en. Er ist viel unterwegs. Spricht in Schulen, auf Veranstalt­ungen über sein Leben. In Thüringen, klagt er, seltener als anderswo. Er spricht von einer merkwürdig­en Zurückhalt­ung, mit der diesem Thema begegnet wird.

Das treibt ihn um. Die jungen Menschen, sagt er, sollen die Demokratie bewahren. Dafür müssen sie doch wissen was es bedeutet, sie nicht zu haben.

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