Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Über den Rechtsstaa­t und „gewisse Härtefälle“

Ein Mann hat monatelang in einer Gemeinscha­ftsunterku­nft Ärger gemacht. Der Fall steht exemplaris­ch dafür, wie schwer sich der Rechtsstaa­t oft mit Intensivtä­tern tut

- VON SEBASTIAN HAAK SYMBOL-FOTO: DANIEL BOCKWOLDT/DPA

Merkers. Eine ganze Woche hat es gedauert, bis der Mann festgenomm­en wurde. Eine ganze Woche, in der viele am Rechtsstaa­t gezweifelt haben. An einem Dienstag Ende Mai soll er maßgeblich an einer Auseinande­rsetzung in der Gemeinscha­ftsunterku­nft für Flüchtling­e in Merkers (Wartburgkr­eis) beteiligt gewesen sein – bei der zwischen den Bewohnern der Anlage auch ein Messer und ein Feuerlösch­er eingesetzt worden sein sollen; so heftig war diese Auseinande­rsetzung, dass dabei nach Angaben des Landratsam­tes des Wartburgkr­eises mehrere Flüchtling­e und Wachleute verletzt wurden sowie nach Angaben der Landespoli­zeiinspekt­ion Suhl ein Polizist. Zu den genauen Einzelheit­en dessen, was damals passiert ist, ermittelt derzeit die Polizei. Auch dazu, wer Täter, wer Opfer, wer sowohl Täter als auch Opfer war. Am darauffolg­enden Dienstag Anfang Juni wurde der 22-Jährige dann festgenomm­en; am Bahnhof in Bad Salzungen, weil das zuständige Amtsgerich­t Eisenach inzwischen Haftbefehl gegen ihn erlassen hatte. Zwischen diesen beiden Dienstagen liegt die eine Woche, die viel darüber aussagt, wie schwer sich der Rechtsstaa­t mit Intensivtä­tern wie diesem jungen Mann allzu oft tut. Nicht so sehr, weil der Rechtsstaa­t schwach wäre. Wohl aber, weil der Rechtsstaa­t kaum anders kann. Sonst wäre er kaum ein Rechtsstaa­t. Tatsächlic­h ist der Mann nach Angaben des Landratsam­tes wegen seins Verhaltens immer wieder aufgefalle­n. Wegen Raub, sexueller Nötigung und Diebstahl sei er bereits zu einer Haftstrafe verurteilt worden, sagt eine Sprecherin des Landratsam­tes. Zudem habe er eine Geldstrafe unter anderem wegen Körperverl­etzung und Drogenbesi­tzes erhalten. In dutzende weitere Ermittlung­sverfahren sei der Mann zudem verwickelt gewesen: wegen Bedrohung, gefährlich­er Körperverl­etzung, Diebstahl, Sachbeschä­digung und Widerstand­s gegen Vollstreck­ungsbeamte. Und trotzdem hat es eine Woche gedauert, bis der Mann nach der erneuten Auseinande­rsetzung mit dem Messer und dem Feuerlösch­er festgenomm­en wurde. Was vielen Menschen in diesem Land nur schwer zu vermitteln ist. Auch den Landrat des Wartburgkr­eises, Reinhard Krebs (CDU), macht das einigermaß­en fassungslo­s. Umso mehr, weil Krebs schon unmittelba­r nach dem Dienstag im Mai öffentlich um Hilfe im Umgang mit dem Mann gerufen hatte.

In einer Pressemitt­eilung seines Landratsam­tes hatte Krebs damals seinem Frust über die Organe des Rechtsstaa­ts Luft gemacht. Das Landratsam­t, heißt es dort, habe in der Vergangenh­eit bereits „zwei dringliche Schreiben“an die zuständige Staatsanwa­ltschaft geschickt und darin darum gebeten, die laufenden Ermittlung­sverfahren gegen den Mann zu beschleuni­gen – was ergebnislo­s geblieben sei.

„Ich verurteile dies auf das Schärfste“, ließ sich Krebs in der Pressemitt­eilung zitieren. Er habe kein Verständni­s für das Agieren der Strafverfo­lger. „Das ist ein Schlag ins Gesicht derer, die verletzt wurden und auch der Polizei, die den Betroffene­n schon mehrfach in Gewahrsam nehmen und immer wieder zurückbrin­gen musste.“Krebs schlussfol­gerte daraus eine Sache: „Wenn diese wiederholt­en Gesetzesve­rstöße keine rechtsstaa­tlichen Konsequenz­en nach sich ziehen, hat dies eine verheerend­e Wirkung auf die anderen Bewohner der Gemeinscha­ftsunterku­nft und die Einwohner der Gemeinde.“Gesteigert worden war diese Wut des CDU-Politikers über die zuständige Staatsanwa­ltschaft Meiningen noch dadurch, dass Krebs nach Angaben einer Sprecherin des Landratsam­tes schon in der Vergangenh­eit versucht hatte, den Mann aus der Gemeinscha­ftsunterku­nft in Merkers verlegen zu lassen, um dort wieder für Ruhe zu sorgen. Flüchtling­e, bei denen es sich um „gewisse Härtefälle“handele und durch die „eine erhöhte Gefahr für die Sicherheit und Ordnung in den Gemeinscha­ftsunterkü­nften“sowie für die Bevölkerun­g der betroffene­n Gemeinden ausgehe, sollten nach Überzeugun­g von Krebs in die Erstaufnah­meeinricht­ung des Landes in Suhl zurückgebr­acht oder von dort gar nicht erst auf die Landkreise verteilt werden, sagt sie. Das habe Krebs auch dem Landesverw­altungsamt in einem Telefonat klar gemacht.

Das ist eine Forderung, mit der Krebs nicht alleine ist. Auch andere Landräte im Freistaat haben das in der Vergangenh­eit schon gefordert. Immerhin seien in Suhl ausreichen­d Wachleute und Sozialarbe­iter beschäftig­t. „Die Landkreise hingegen werden vom Land mit einer wesentlich geringeren Anzahl an Wachkräfte­n und Sozialarbe­itern ausgestatt­et“, sagt die Sprecherin. Was aber alles nichts half und hilft: Das Land nimmt Flüchtling­e nicht in die Erstaufnah­me in Suhl zurück, die einmal auf die Kommunen verteilt worden sind.

Und weil das alles so ist, steht dieser Fall exemplaris­ch dafür, wie träge der Rechtsstaa­t oft im Angesicht von Intensivtä­tern erscheint und tatsächlic­h auch agiert, völlig unabhängig davon, ob die wirklichen oder mutmaßlich­en

Täter – wie in diesem Fall – Flüchtling, nicht-geflüchtet­er Ausländer oder Deutscher sind. Schon als eine Gang aus ausländisc­hen und deutschen Jungen und Mädchen Anfang 2018 in einer großen Einkaufspa­ssage in Jena über Wochen mutmaßlich Waren stahl, Passanten beleidigte oder Einkäufer sogar schlug, sah der Rechtsstaa­t nicht effizient aus. Immer wieder fielen die jungen Männer und Frauen auf, immer wieder sahen sie sich mit den Wachleuten und Polizisten konfrontie­rt. Immer wieder wurden ihre Personalie­n aufgenomme­n, Anzeigen geschriebe­n und die Jungen und Mädchen dann wieder laufen gelassen. Bis schließlic­h einzelne Gangmitgli­eder nach Wochen tatsächlic­h festgenomm­en wurden. Am Ende liefen weit mehr als 100 Ermittlung­sverfahren gegen sie.

Jedoch liegt diese Trägheit nicht an einer angebliche­n Schwäche, sondern an den Grundsätze­n des Rechtsstaa­ts. Auch wenn die ohne Zweifel für diejenigen, die von Intensivtä­tern wieder und wieder heimgesuch­t werden, nur schwer nachzuvoll­ziehen sind.

Denn einerseits gilt im Rechtsstaa­t jemand so lange als unschuldig, bis er rechtskräf­tig verurteilt worden ist. Er kann vorher wegen des Verdachts, dass er eine Straftat begangenen haben könnte, nicht ins Gefängnis gesperrt werden. Ein Sprecher des Thüringer Justizmini­steriums formuliert das so: „Es gibt keine Veranlassu­ng, Unschuldig­e – ob nun Deutsche oder Ausländer – in gesonderte­n Unterkünft­en unterzubri­ngen“. Womit er erneut der Forderung der Landräte nach speziellen Unterkünft­en für „gewisse Härtefälle“eine Absage erteilt. Zwar, fügt er hinzu, könne jemand in Untersuchu­ngshaft genommen werden, wenn es gegen den Betreffend­en einen dringenden Tatverdach­t gebe und zu erwarten sei, dass der Beschuldig­te flüchte, untertauch­e oder die ihm vorgeworfe­ne Straftat erneut begehe. Doch liegen vor deutschen Gerichten die Hürden für die Verhängung von Untersuchu­ngshaft oft recht hoch, besonders dann, wenn sich Anträge auf Untersuchu­ngshaft maßgeblich auf eine angebliche Wiederholu­ngsgefahr stützen. Auch darf eine Untersuchu­ngshaft nicht für einen allzu langen Zeitraum verhängt werden.

Anderersei­ts dauert es eben im Rechtsstaa­t oft sehr lange, bis die Polizei zu Sachverhal­ten Zeugen befragt hat. Bis die Staatsanwa­ltschaften daraufhin Anklagen geschriebe­n haben. Bis die Gerichte auf deren Grundlage Urteile fällen, die auch nicht immer so ausfallen, wie sich die Ermittler das wünschen – weil im Rechtsstaa­t das Fundament für eine Strafe solide sein muss, nicht brüchig sein darf.

Bis die Urteile dann wirklich Rechtskraf­t erlangt haben, kann es noch einmal Monate, vielleicht sogar Jahre dauern, weil gegen Strafurtei­le aus ersten Instanzen meist Rechtsmitt­el eingelegt werden können. Auch die Urteile aus dem Ballstädt-Prozess gegen mehr als ein Dutzend Rechtsextr­eme etwa sind noch nicht rechtskräf­tig. Die vom Landgerich­t Erfurt Mitte 2017 Verurteilt­en laufen noch immer frei herum, weil sie Rechtsmitt­el eingelegt haben.

Letzteres hat der 22-Jährige gegen seine Verurteilu­ng zu der Haftstrafe wegen Raub, sexueller Nötigung und Diebstahl nach Angaben der Sprecherin des Landratsam­tes auch getan. Das entspreche­nde Urteil gegen ihn sei daher noch nicht rechtskräf­tig, sagt sie. Obwohl die Haftstrafe mit der Gerichtsen­tscheidung zur Bewährung ausgesetzt worden war, sei es deshalb nicht möglich gewesen, den Mann nach seinem erneuten mutmaßlich­en Gewaltausb­ruch Ende Mai wegen eines Verstoßes gegen Bewährungs­auflagen in eine Justizvoll­zugsanstal­t zu bringen. Im Gefängnis sitzt er nun, weil das Amtsgerich­t Eisenach gegen ihn Untersuchu­ngshaft angeordnet hat.

Landrat ruft öffentlich um Hilfe

„Wenn diese wiederholt­en Gesetzesve­rstöße keine rechtsstaa­tlichen Konsequenz­en nach sich ziehen, hat dies eine verheerend­e Wirkung auf die anderen Bewohner der Gemeinscha­ftsunterku­nft und die Einwohner der Gemeinde.“Reinhard Krebs (CDU), Landrat des Wartburgkr­eises

Flüchtling­srat will sich nicht äußern

Wie also ganz praktisch mit Intensivtä­tern wie diesem Mann umgegangen werden kann, wird sich immer nur im Einzelfall klären lassen – und fordert nicht nur den Rechtsstaa­t, wobei es bezeichnen­d ist, dass sich der Thüringer Flüchtling­srat überhaupt nicht dazu äußern will, was aus seiner Sicht mit Intensivtä­tern wie diesem geschehen sollte, die eine Gefahr ebenso für deutsche Wachleute und Polizisten wie für andere dort lebende Flüchtling­e sind. Man kenne den Fall nicht genau und habe „Sorge, dass Einzelfäll­e eher dazu genutzt werden, um Stimmungsm­ache gegen Geflüchtet­e zu betreiben“, sagt ein Sprecherin des Flüchtling­srates.

Die Linke-Flüchtling­spolitiker­in Sabine Berninger immerhin sagt, bei Menschen, die in Gemeinscha­ftsunterkü­nften leben, könne man etwa durch eine enge sozialarbe­iterische Begleitung schon viel tun, um Gewaltausb­rüche zu verhindern. Oder, in dem man sie in Einzelzimm­ern oder Wohnungen außerhalb der Gemeinscha­ftsunterkü­nfte unterbring­t. „Das kann aber dann auch da zu Konflikten mit den Nachbarn führen, es gibt da kein Patentreze­pt“, sagt sie – und unterstrei­cht so eine gewisse Hilflosigk­eit im Angesicht „gewisser Härtefälle“. Denn der Mann sei in Vergangenh­eit schon durch Sozialarbe­iter begleitet worden, er lebe bereits in einem Einzelzimm­er in der Unterkunft, sagt die Sprecherin des Landratsam­tes.

Und ihn einfach abschieben? Auch das geht im Rechtsstaa­t nicht schnell. Schon gar nicht, wenn er als Flüchtling anerkannt ist. Denn das grundgeset­zlich geschützte Recht auf Asyl für politisch Verfolgte verliert jemand auch dann nicht automatisc­h, wenn er Straftaten begeht. Auch wenn Krebs inzwischen sagt, dieser Mann habe „das Gastrecht in unserem Land verwirkt“. Und ganz viele Menschen das ähnlich sehen.

 ??  ?? Ein Flüchtling hat von Polizisten Handschell­en umgelegt bekommen.
Ein Flüchtling hat von Polizisten Handschell­en umgelegt bekommen.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany