Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Über den Rechtsstaat und „gewisse Härtefälle“
Ein Mann hat monatelang in einer Gemeinschaftsunterkunft Ärger gemacht. Der Fall steht exemplarisch dafür, wie schwer sich der Rechtsstaat oft mit Intensivtätern tut
Merkers. Eine ganze Woche hat es gedauert, bis der Mann festgenommen wurde. Eine ganze Woche, in der viele am Rechtsstaat gezweifelt haben. An einem Dienstag Ende Mai soll er maßgeblich an einer Auseinandersetzung in der Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge in Merkers (Wartburgkreis) beteiligt gewesen sein – bei der zwischen den Bewohnern der Anlage auch ein Messer und ein Feuerlöscher eingesetzt worden sein sollen; so heftig war diese Auseinandersetzung, dass dabei nach Angaben des Landratsamtes des Wartburgkreises mehrere Flüchtlinge und Wachleute verletzt wurden sowie nach Angaben der Landespolizeiinspektion Suhl ein Polizist. Zu den genauen Einzelheiten dessen, was damals passiert ist, ermittelt derzeit die Polizei. Auch dazu, wer Täter, wer Opfer, wer sowohl Täter als auch Opfer war. Am darauffolgenden Dienstag Anfang Juni wurde der 22-Jährige dann festgenommen; am Bahnhof in Bad Salzungen, weil das zuständige Amtsgericht Eisenach inzwischen Haftbefehl gegen ihn erlassen hatte. Zwischen diesen beiden Dienstagen liegt die eine Woche, die viel darüber aussagt, wie schwer sich der Rechtsstaat mit Intensivtätern wie diesem jungen Mann allzu oft tut. Nicht so sehr, weil der Rechtsstaat schwach wäre. Wohl aber, weil der Rechtsstaat kaum anders kann. Sonst wäre er kaum ein Rechtsstaat. Tatsächlich ist der Mann nach Angaben des Landratsamtes wegen seins Verhaltens immer wieder aufgefallen. Wegen Raub, sexueller Nötigung und Diebstahl sei er bereits zu einer Haftstrafe verurteilt worden, sagt eine Sprecherin des Landratsamtes. Zudem habe er eine Geldstrafe unter anderem wegen Körperverletzung und Drogenbesitzes erhalten. In dutzende weitere Ermittlungsverfahren sei der Mann zudem verwickelt gewesen: wegen Bedrohung, gefährlicher Körperverletzung, Diebstahl, Sachbeschädigung und Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte. Und trotzdem hat es eine Woche gedauert, bis der Mann nach der erneuten Auseinandersetzung mit dem Messer und dem Feuerlöscher festgenommen wurde. Was vielen Menschen in diesem Land nur schwer zu vermitteln ist. Auch den Landrat des Wartburgkreises, Reinhard Krebs (CDU), macht das einigermaßen fassungslos. Umso mehr, weil Krebs schon unmittelbar nach dem Dienstag im Mai öffentlich um Hilfe im Umgang mit dem Mann gerufen hatte.
In einer Pressemitteilung seines Landratsamtes hatte Krebs damals seinem Frust über die Organe des Rechtsstaats Luft gemacht. Das Landratsamt, heißt es dort, habe in der Vergangenheit bereits „zwei dringliche Schreiben“an die zuständige Staatsanwaltschaft geschickt und darin darum gebeten, die laufenden Ermittlungsverfahren gegen den Mann zu beschleunigen – was ergebnislos geblieben sei.
„Ich verurteile dies auf das Schärfste“, ließ sich Krebs in der Pressemitteilung zitieren. Er habe kein Verständnis für das Agieren der Strafverfolger. „Das ist ein Schlag ins Gesicht derer, die verletzt wurden und auch der Polizei, die den Betroffenen schon mehrfach in Gewahrsam nehmen und immer wieder zurückbringen musste.“Krebs schlussfolgerte daraus eine Sache: „Wenn diese wiederholten Gesetzesverstöße keine rechtsstaatlichen Konsequenzen nach sich ziehen, hat dies eine verheerende Wirkung auf die anderen Bewohner der Gemeinschaftsunterkunft und die Einwohner der Gemeinde.“Gesteigert worden war diese Wut des CDU-Politikers über die zuständige Staatsanwaltschaft Meiningen noch dadurch, dass Krebs nach Angaben einer Sprecherin des Landratsamtes schon in der Vergangenheit versucht hatte, den Mann aus der Gemeinschaftsunterkunft in Merkers verlegen zu lassen, um dort wieder für Ruhe zu sorgen. Flüchtlinge, bei denen es sich um „gewisse Härtefälle“handele und durch die „eine erhöhte Gefahr für die Sicherheit und Ordnung in den Gemeinschaftsunterkünften“sowie für die Bevölkerung der betroffenen Gemeinden ausgehe, sollten nach Überzeugung von Krebs in die Erstaufnahmeeinrichtung des Landes in Suhl zurückgebracht oder von dort gar nicht erst auf die Landkreise verteilt werden, sagt sie. Das habe Krebs auch dem Landesverwaltungsamt in einem Telefonat klar gemacht.
Das ist eine Forderung, mit der Krebs nicht alleine ist. Auch andere Landräte im Freistaat haben das in der Vergangenheit schon gefordert. Immerhin seien in Suhl ausreichend Wachleute und Sozialarbeiter beschäftigt. „Die Landkreise hingegen werden vom Land mit einer wesentlich geringeren Anzahl an Wachkräften und Sozialarbeitern ausgestattet“, sagt die Sprecherin. Was aber alles nichts half und hilft: Das Land nimmt Flüchtlinge nicht in die Erstaufnahme in Suhl zurück, die einmal auf die Kommunen verteilt worden sind.
Und weil das alles so ist, steht dieser Fall exemplarisch dafür, wie träge der Rechtsstaat oft im Angesicht von Intensivtätern erscheint und tatsächlich auch agiert, völlig unabhängig davon, ob die wirklichen oder mutmaßlichen
Täter – wie in diesem Fall – Flüchtling, nicht-geflüchteter Ausländer oder Deutscher sind. Schon als eine Gang aus ausländischen und deutschen Jungen und Mädchen Anfang 2018 in einer großen Einkaufspassage in Jena über Wochen mutmaßlich Waren stahl, Passanten beleidigte oder Einkäufer sogar schlug, sah der Rechtsstaat nicht effizient aus. Immer wieder fielen die jungen Männer und Frauen auf, immer wieder sahen sie sich mit den Wachleuten und Polizisten konfrontiert. Immer wieder wurden ihre Personalien aufgenommen, Anzeigen geschrieben und die Jungen und Mädchen dann wieder laufen gelassen. Bis schließlich einzelne Gangmitglieder nach Wochen tatsächlich festgenommen wurden. Am Ende liefen weit mehr als 100 Ermittlungsverfahren gegen sie.
Jedoch liegt diese Trägheit nicht an einer angeblichen Schwäche, sondern an den Grundsätzen des Rechtsstaats. Auch wenn die ohne Zweifel für diejenigen, die von Intensivtätern wieder und wieder heimgesucht werden, nur schwer nachzuvollziehen sind.
Denn einerseits gilt im Rechtsstaat jemand so lange als unschuldig, bis er rechtskräftig verurteilt worden ist. Er kann vorher wegen des Verdachts, dass er eine Straftat begangenen haben könnte, nicht ins Gefängnis gesperrt werden. Ein Sprecher des Thüringer Justizministeriums formuliert das so: „Es gibt keine Veranlassung, Unschuldige – ob nun Deutsche oder Ausländer – in gesonderten Unterkünften unterzubringen“. Womit er erneut der Forderung der Landräte nach speziellen Unterkünften für „gewisse Härtefälle“eine Absage erteilt. Zwar, fügt er hinzu, könne jemand in Untersuchungshaft genommen werden, wenn es gegen den Betreffenden einen dringenden Tatverdacht gebe und zu erwarten sei, dass der Beschuldigte flüchte, untertauche oder die ihm vorgeworfene Straftat erneut begehe. Doch liegen vor deutschen Gerichten die Hürden für die Verhängung von Untersuchungshaft oft recht hoch, besonders dann, wenn sich Anträge auf Untersuchungshaft maßgeblich auf eine angebliche Wiederholungsgefahr stützen. Auch darf eine Untersuchungshaft nicht für einen allzu langen Zeitraum verhängt werden.
Andererseits dauert es eben im Rechtsstaat oft sehr lange, bis die Polizei zu Sachverhalten Zeugen befragt hat. Bis die Staatsanwaltschaften daraufhin Anklagen geschrieben haben. Bis die Gerichte auf deren Grundlage Urteile fällen, die auch nicht immer so ausfallen, wie sich die Ermittler das wünschen – weil im Rechtsstaat das Fundament für eine Strafe solide sein muss, nicht brüchig sein darf.
Bis die Urteile dann wirklich Rechtskraft erlangt haben, kann es noch einmal Monate, vielleicht sogar Jahre dauern, weil gegen Strafurteile aus ersten Instanzen meist Rechtsmittel eingelegt werden können. Auch die Urteile aus dem Ballstädt-Prozess gegen mehr als ein Dutzend Rechtsextreme etwa sind noch nicht rechtskräftig. Die vom Landgericht Erfurt Mitte 2017 Verurteilten laufen noch immer frei herum, weil sie Rechtsmittel eingelegt haben.
Letzteres hat der 22-Jährige gegen seine Verurteilung zu der Haftstrafe wegen Raub, sexueller Nötigung und Diebstahl nach Angaben der Sprecherin des Landratsamtes auch getan. Das entsprechende Urteil gegen ihn sei daher noch nicht rechtskräftig, sagt sie. Obwohl die Haftstrafe mit der Gerichtsentscheidung zur Bewährung ausgesetzt worden war, sei es deshalb nicht möglich gewesen, den Mann nach seinem erneuten mutmaßlichen Gewaltausbruch Ende Mai wegen eines Verstoßes gegen Bewährungsauflagen in eine Justizvollzugsanstalt zu bringen. Im Gefängnis sitzt er nun, weil das Amtsgericht Eisenach gegen ihn Untersuchungshaft angeordnet hat.
Landrat ruft öffentlich um Hilfe
„Wenn diese wiederholten Gesetzesverstöße keine rechtsstaatlichen Konsequenzen nach sich ziehen, hat dies eine verheerende Wirkung auf die anderen Bewohner der Gemeinschaftsunterkunft und die Einwohner der Gemeinde.“Reinhard Krebs (CDU), Landrat des Wartburgkreises
Flüchtlingsrat will sich nicht äußern
Wie also ganz praktisch mit Intensivtätern wie diesem Mann umgegangen werden kann, wird sich immer nur im Einzelfall klären lassen – und fordert nicht nur den Rechtsstaat, wobei es bezeichnend ist, dass sich der Thüringer Flüchtlingsrat überhaupt nicht dazu äußern will, was aus seiner Sicht mit Intensivtätern wie diesem geschehen sollte, die eine Gefahr ebenso für deutsche Wachleute und Polizisten wie für andere dort lebende Flüchtlinge sind. Man kenne den Fall nicht genau und habe „Sorge, dass Einzelfälle eher dazu genutzt werden, um Stimmungsmache gegen Geflüchtete zu betreiben“, sagt ein Sprecherin des Flüchtlingsrates.
Die Linke-Flüchtlingspolitikerin Sabine Berninger immerhin sagt, bei Menschen, die in Gemeinschaftsunterkünften leben, könne man etwa durch eine enge sozialarbeiterische Begleitung schon viel tun, um Gewaltausbrüche zu verhindern. Oder, in dem man sie in Einzelzimmern oder Wohnungen außerhalb der Gemeinschaftsunterkünfte unterbringt. „Das kann aber dann auch da zu Konflikten mit den Nachbarn führen, es gibt da kein Patentrezept“, sagt sie – und unterstreicht so eine gewisse Hilflosigkeit im Angesicht „gewisser Härtefälle“. Denn der Mann sei in Vergangenheit schon durch Sozialarbeiter begleitet worden, er lebe bereits in einem Einzelzimmer in der Unterkunft, sagt die Sprecherin des Landratsamtes.
Und ihn einfach abschieben? Auch das geht im Rechtsstaat nicht schnell. Schon gar nicht, wenn er als Flüchtling anerkannt ist. Denn das grundgesetzlich geschützte Recht auf Asyl für politisch Verfolgte verliert jemand auch dann nicht automatisch, wenn er Straftaten begeht. Auch wenn Krebs inzwischen sagt, dieser Mann habe „das Gastrecht in unserem Land verwirkt“. Und ganz viele Menschen das ähnlich sehen.