Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
„Nicht jeder Besuch beim Arzt ist nötig“
Ärztepräsident Klaus Reinhardt ermahnt Patienten, nicht zu oft in die Praxis zu kommen. Finanzielle Anreize sollen dabei helfen
Berlin. Der Präsident kommt mit dem Fahrrad. Klaus Reinhardt gibt das erste große Interview, nachdem er im Mai zum Ärztepräsidenten gewählt worden war. In dem Gespräch wird klar, dass Reinhardt in sein neues Amt vor allem seine Erfahrungen aus der eigenen Hausarztpraxis in Bielefeld einbringen will: Er möchte eine Diskussion anstoßen, wann und wie oft Patienten zum Arzt gehen müssen.
Herr Reinhardt, Sie sind mit drei Stimmen Vorsprung Ärztepräsident geworden. Hätten Sie verloren, stünde erstmals eine Frau an der Spitze Ihrer Standesorganisation. Warum war die Zeit nicht reif für eine Präsidentin?
Klaus Reinhardt: Die Zeit der ersten Präsidentin der Bundesärztekammer wird kommen. Wichtig ist, dass jemand an der Spitze steht, der noch ärztlich tätig ist und das Gesundheitswesen aus der eigenen Praxis kennt.
Haben es Frauen schwerer als Männer, Karriere zu machen? Ja. Zwar übernehmen heute viel mehr Männer familiäre Aufgaben. Aber es ist immer noch so: In der Zeit, in der Frauen Kinder bekommen und die Kinder noch klein sind, können sie den Beruf nur schwer voll ausüben. Ärztinnen und Ärzte haben es häufig mit Notfällen und mit nicht vorhersehbaren Situationen zu tun. Das lässt sich nicht leicht mit Familie vereinbaren. Wir müssen den Arztberuf familienfreundlicher machen.
Die meisten Medizinstudierenden sind weiblich – trotzdem besetzen Männer die Spitzenpositionen an Krankenhäusern. Warum?
Das ist kein Problem, das auf die Medizin beschränkt ist. Ich bin Mitglied des Vereins ProQuote und diskutiere gern, was man tun kann, damit mehr Frauen in Führungspositionen kommen. Das ist aber vor allem ein Thema für die Politik und für die Arbeitgeber.
Braucht es eine Frauenquote beispielsweise für Chefarztstellen?
Über eine Frauenquote für Führungsposten in der Medizin kann man reden. Ich bin dafür. In zehn Jahren wird das aber kein Thema mehr sein. Auch Frauen sagen ja: Ich will den Posten, weil ich qualifiziert bin, und nicht, weil ich eine Frau bin.
Gehen wir zu oft zum Arzt? Nicht jeder Besuch beim Arzt ist notwendig und sinnvoll. Die Menschen in Deutschland haben ein hohes Sicherheitsbedürfnis und viele wollen, dass sich sofort ein Arzt kümmert. Das ist legitim. Aber ist es nötig? Wir brauchen mehr eigene Gesundheitskompetenz. Dann wüssten die Leute, dass sie bei einem Brechdurchfall ein paar Tage mit einer einfachen Diät auch selbst zurechtkommen. Sie müssen nicht sofort in die Notaufnahme. Und natürlich kann man sich in Zweifelsfällen eine zweite Meinung einholen. Es gibt aber Menschen, die haben nicht einen Hausarzt, sondern zwei oder drei Hausärzte und holen regelmäßig eine zweite oder dritte Meinung ein. Das geht nicht.
Wie ließe sich das ändern? Das ist eine Frage von Solidarität. Wenn die Zahl der Ärzte begrenzt ist, muss man fragen, ob diejenigen, die unnötig im Wartezimmer sitzen, sich solidarisch verhalten. Die Politik scheut die Diskussion darüber, denn das würde bedeuten, dass man diesen Menschen und diesem Verhalten Grenzen setzen müsste. Wir sind aber weit davon entfernt. Da passiert nichts.
Welche Grenzen würden Sie setzen?
Heute wird längst erfasst, welcher Patient wann bei welchem Arzt war. Man kann feststellen, ob ein Patient mit derselben Erkrankung bei zwei, drei, vier Ärzten war oder nach einem Arztbesuch wegen der gleichen Sache ins Krankenhaus gefahren ist. Deshalb: Wir müssen gemeinsam mit Politik und Krankenkassen nach Lösungen suchen und die Patienten auch mal nach dem Grund fragen, warum sie wegen derselben Erkrankung bei sehr vielen Ärzten waren. Es mag diesen Grund ja geben. Aber heute wird das völlig unkommentiert hingenommen. Das ist mir zu wenig. Die Patienten müssen lernen, verantwortungsvoll mit der Ressource Arzt umzugehen. Wer das nicht tut, verbaut den Menschen, die ernsthaft erkrankt sind, den Weg zu ärztlicher Hilfe.
Denken Sie dabei an finanzielle Anreize wie die Praxisgebühr?
Die Praxisgebühr war falsch organisiert. Das kann man intelligenter machen. Aber: Die Praxisgebühr hat grundsätzlich funktioniert. Hausärzte wie ich haben festgestellt: Als die Praxisgebühr wegfiel, nahm die Zahl der Patienten und die Zahl der Arztbesuche spürbar zu. Der Erstzugang zum Arzt sollte immer frei sein. Aber man muss genauer hinsehen, wer wann und weshalb zum Arzt geht.
Wie könnte das konkret funktionieren?
Die Rolle der Krankenkassen habe ich erwähnt. Man kann auch über eine wirtschaftliche Beteiligung des Patienten nachdenken. Die muss sozialverträglich sein. Mit kleinen Geldbeträgen würde sich das Verhalten schon verändern. Das entspricht meiner Beobachtung und den Erfahrungen aus anderen Ländern, in denen es eine Selbstbeteiligung gibt. Mit dem Thema müssen wir uns befassen, auch wenn das in der Ärzteschaft nicht unumstritten ist.
Was meinen Sie mit „verträglicher Form der Selbstbeteiligung“?
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Ein Patient kommt zur Blutabnahme in meine Praxis und spricht mich auf sein schmerzendes und geschwollenes Knie an. Er sagt, er habe drei Tage später einen Termin beim Orthopäden. Ich schaue mir das Knie an und halte das für vertretbar. Trotzdem setzt sich der Patient ins Auto und fährt sofort in die Klinik. Um hier ganz klar zu sein: Jeder soll zu jedem Arzt gehen können. Jeder sollte ohne Zugangsbarrieren die Meinung eines zweiten Arztes einholen können. Aber das muss in einem vernünftigen und vertretbaren Rahmen bleiben. Bei mehrfachen und völlig unnötigen Arztbesuchen kann eine moderate wirtschaftliche Beteiligung zu einem verantwortungsvolleren Umgang mit unseren knappen Ressourcen im Gesundheitswesen beitragen. Es geht um eine bessere Steuerung von Patienten. Davon profitieren am Ende alle. Andere Hausärzte oder Kollegen in Notfallambulanzen der Krankenhäuser wären dankbar, wenn wir dieses Thema endlich diskutieren würden.