Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Wie die Mehrwertstadt tickt
Die Wählerinitiative ist in den Stadtrat eingezogen. Wie es jetzt weiter gehen soll, diskutierten die vier Stadträte mit Bürgern bei „Frau Korte“
Ilversgehofen. Am Nordbahnhof befindet sich die wohl einzige Stelle in Erfurt, wo die Straßenbahn zur Hochbahn wird und so ein bisschen an Berlin erinnert. In südlicher Richtung, hinter dem Malzwerk, beginnt der Kiez: Ilversgehofen, Krämpfervorstadt und die anderen Vorstädte. Dort kommen die meisten Mehrwertstädter her, dort wohnen viele ihrer Wähler. Ein gutes Dutzend ist am Mittwochabend der Einladung in den Club „Frau Korte“gefolgt. Sie sind im jüngeren bis mittleren Alter und könnten diesen Sommerabend auch mit ihren Familien verbringen oder in einem Biergarten sitzen. Statt dessen reden sie über Politik.
Mit den vier Stadträten der Mehrwertstadt und den restlichen Kandidaten wollen sie bereden, wie es weiter geht – jetzt, da die Wählerinitiative mit über die Geschicke der Stadt bestimmt. Themen haben sie genug, aber irgendwo muss man ja anfangen. Außerdem werden Leute mit Fachkenntnis und Geduld gesucht, die als „berufene Bürger“die Stadträte in den Ausschüssen unterstützen.
Zwei Standtafeln sind aufgebaut in dem Clubraum von „Frau Korte“, wo sich vor den Fenstern eine Discokugel dreht. Eine Tafel listet Themen von Gewicht auf – „Evag-Ticket“, „Urbich“, „Konzeptvergabe Immobilien“oder „Kowo“. Wer sich für ein Thema speziell interessiert, kann sich eintragen. „Was heißt Post-Wachstumsstadt?“, wird Fraktionschef Sebastian Perdelwitz gefragt. Auf der anderen Tafel geht es wilder zu. Fragen und Probleme, Ideen und Geistesblitze sind als Kärtchen auf die Tafel geheftet und werden miteinander in Beziehung gesetzt, um neue Lösungsansätze zu finden. Zumeist geht es hier um Radverkehr. Reden würde es keine geben, hätte nicht die Mehrwertstadt gerade den zweiten Platz beim „Stadtradeln“belegt. So zeichnet Christopher Kutzner noch schnell die aktivsten Radler mit Wanderpokalen aus. Damit ist der offizielle Teil beendet.
Scheinbar zufällig teilen sich die Leute auf und stehen bald in Gruppen zusammen. Wohnen ist ein großes Thema. Man erzählt sich gegenseitig, wie die großen Privatvermieter jeden Spielraum ausschöpften, die Mieten zu erhöhen. Sebastian Perdelwitz kennt andere Beispiele: In der Krämpfervorstadt würden die Vermieter oft selbst im Haus leben, da sei es anders.
Die Stadtteilentwicklung ist ein wichtiges Thema für den Fraktionschef, der lange Zeit als Quartiersmanager für die Magdeburger Allee gearbeitet hat. Wenn man es irgendwie schafft, Ladenzeilen mit Geschäften und Gastronomie in die Erdgeschosse der Wohnhäuser zu bringen, findet er, profitierten das Zusammenleben und damit auch der Stadtteil.
Das Bauland-Modell reicht nicht aus, findet auch NeuStadtrat Steffen Präger. „Wir müssen das gemeinschaftliche Wohnen stärken“, sagt er. Modelle, bei denen den Bewohnern ein Teil des Hauses selbst gehört, müssten gefördert werden. Etwa durch eine gezielte Vergabe städtischer Grundstücke und Immobilien, oder durch Beratergutscheine, die Wohngemeinschaften bei der Vor- und Finanzplanung unterstützen.
Überflüssiges Geld hat die Stadt freilich nicht, weiß Präger. Bis 2020 ist der Haushalt beschlossen. „Aber die nächsten vier Jahre werden hart, sehr hart“, meint er. In mehr Transparenz bei den Entscheidungen und mehr Mitbestimmung der Bürger sieht er eine Antwort. „Open Data“heißt sein Zauberwort: Alle Daten, die der Verwaltung vorliegen und nicht dem Datenschutz unterliegen, sollten öffentlich werden, damit die Bürger mithelfen können, Probleme zu identifizieren und Lösungen zu suchen.
Und warum sollen die Bürger nicht auch darüber entscheiden, wo bei knapper Kasse zuerst Geld gekürzt werden muss? Derzeit sei es aber schon eine Herausforderung, im Internet den richtigen Ansprechpartner für ein bestimmtes Anliegen in der Verwaltung aufzutreiben.
Nicht alle Fortschritte kosten viel Geld, findet Stadträtin Tina Morgenroth. Die Verbesserung des Radverkehrs hat sie sich ganz oben auf die Fahne geschrieben. Würden die Radwege zum Beispiel besser markiert, profitierten auch Autofahrer und Fußgänger davon. Die Radwege müssten zudem so sicher werden, dass auch Kinder sie gefahrlos befahren können.
Einen neuen SicherheitsTrend hat sie in Polen entdeckt. Radwege, die durch eine spezielle Belags-Mischung selbst leuchten, helfen bei Dunkelheit. Das funktioniert natürlich nur, wenn Radwege neu gebaut werden. „Potsdam prüft das gerade“, sagt Tina Morgenroth. Es gehört zum Selbstverständnis der Mehrwertstadt, sich Inspiration in anderen Städten zu holen. Wer in welchen Fachausschuss geht, steht noch nicht fest. Doch den Sitz im Sozialausschuss wird wohl niemand der Stadträtin Jana Rötsch streitig machen.
Sie ist selbst Sozialarbeiterin und hat schon vor der Wahl mit einer Bürgeranfrage den Psychiatriebericht auf die Tagesordnung gehoben. Im Sozialausschuss wird die Anfrage nun weiter beraten.
„Es geht um die Anlaufstellen und Ansprechpartner für psychisch Kranke und ihre Angehörigen“, erläutert Rötsch. Die letzte Bestandserhebung sei sechs Jahre her. Seitdem liege das Thema brach. Auch die Koordinatoren, die es mal gab, fehlten. Das Thema betreffe sehr viele Menschen und ihre Teilhabe am Leben, betont Rötsch.
Zu den eigenen Themen prasseln immer mehr neue Anliegen von teils völlig unbekannten Bürgern auf die Mehrwertstadt ein, erzählt Jana Rötsch. Noch bis 28. August ist Zeit, die Prioritäten zu sortieren. Dann findet die erste richtige Stadtrats-Sitzung statt.