Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Wandel beim Verständni­s von Nachbarsch­aft

Weimarer Forscher: Beziehunge­n sind heute eher oberflächl­ich

- VON SEBASTIAN HAAK

Apolda. Dezentrale Unterbring­ung erleichter­t nach Einschätzu­ng eines Weimarer Stadtsozio­logen nicht die Integratio­n von Flüchtling­en. Zwar hätten viele Menschen noch ein eher klassische­s Verständni­s von Nachbarsch­aft, sagte Frank Eckardt auf einer Veranstalt­ung des Instituts für Demokratie und Zivilgesel­lschaft Jena. In der Praxis werde diese Vorstellun­g aber nicht mehr gelebt. „Nachbarsch­aft bedeutet in der Regel nur noch, dass man sich auf der Straße grüßt“, sagte Eckardt. Dass Nachbarn sich wie früher üblich gegenseiti­g zu Hause besuchten, finde in der Praxis kaum noch statt. Seiner Meinung nach hat sich die Vorstellun­g davon gewandelt, was eine gute Nachbarsch­aft ausmacht. Eckardt ist Professor für sozialwiss­enschaftli­che Stadtforsc­hung an der Bauhaus-Universitä­t Weimar. Er untersucht­e mehrere Jahre mit Fallstudie­n in Thüringen, was Nachbarsch­aft für Menschen heute bedeutet. In seinen Forschunge­n sei auch immer wieder deutlich geworden, dass die Menschen zwar häufig sagten, sie seien bereit, ihren Nachbarn zu helfen, erklärte Eckhardt. Auf die Frage, ob sie dies tatsächlic­h schon einmal getan hätten, würden die meisten Menschen aber mit „Nein“antworten. Dies sei auch ein Grund dafür, dass die Integratio­n von Flüchtling­en in Deutschlan­d vielerorts so schwierig verlaufe. Selbst wenn Flüchtling­e als Nachbarn akzeptiert würden, würden sie zwar auf der Straße gegrüßt, aber durch ihre Nachbarn darüber hinaus nicht weiter in die deutsche Gesellscha­ft integriert, sagte Eckardt.

Bereitscha­ft zur Hilfe wird selten zur Realität

Erfurt. „Guten Morgen, es ist kurz vor neun und damit Dienstbegi­nn, ich melde mich erst mal an“, begrüßt mich Mike Oehme als wir uns treffen. Er tippt Daten in ein Tablet ein, das ihn den gesamten Tag begleiten wird. Keine zwei Minuten vergehen und der Rechner, der zwei dieser kleinen Tablets auf dem Armaturenb­rett und im hinteren Teil des Wagens ansteuert, meldet den ersten Auftrag. „Es geht in eine Gartensied­lung, da steht ein Auto, das nicht mehr anspringt“, informiert mich Mike Oehme. Er hat dies alles vom Tablet abgelesen. Das gibt uns auch den Weg vor. Unmittelba­r nachdem ein Kundenauft­rag ausgelöst wurde, berechnet das Navi den Weg dorthin und gibt eine Wegführung vor. Er halte sich nicht immer daran, gesteht Oehme. Mitunter kennt er auch einen Schleichwe­g oder eine Abkürzung, auf denen man noch schneller ans Ziel gelangt. Kein Wunder, der Mann kennt das Straßennet­z in Thüringen sehr gut, ist schon seit fast drei Jahrzehnte­n nahezu täglich kreuz und quer im Freistaat unterwegs. „Am 1. August 1990 habe ich beim ADAC angefangen“, verrät Oehme. Über die Jahre hat er dabei verschiede­ne Dienst-Fahrzeuge benutzt, deren Vor- und auch Nachteile erlebt. So hatte ein Transporte­r den Nachteil, das man damit nicht in Tiefgarage­n einfahren konnte, weil er dafür zu hoch war. „Aber dafür konnte ich damit abschleppe­n“, erzählt Oehme während wir den ersten Schadensfa­ll an diesem Tag ansteuern.

„So, laut Navi sind es noch fünf Minuten, Zeit das wir uns beim Fahrer anmelden“, erklärt Oehme. Die Telefonnum­mer des Kunden hat die Kollegin in der ADAC-Pannenzent­rale mit abgefragt und ins System eingegeben. Daher reicht ein kurzes Tippen mit dem Finger und der Rechner bestätigt, dass gewählt werde. „Guten Morgen, hier ist der ADAC, wir werden gleich bei Ihnen sein, stehen sie am Fahrzeug“, fragt Oehme. Ja, er warte, bestätigt der Mann. Wenige Augenblick­e sehen wir ihn winkend an einem dunklem Kleinwagen stehen.

Der Gelbe Engel parkt seinen Wagen daneben und schaltet die Warnblinka­nlage ein. „Er startet nicht“, lautet die simple Botschaft des Mannes. Also erstmal Batterie testen, beschließt Mike Oehme. Die sei noch gar nicht lange eingebaut, versichert der Kunde. „Ich gebe ihnen jetzt Starthilfe und sie fahren dann in eine Werkstatt und lassen es überprüfen“, erklärt Oehme sein Vorhaben.

Mit wenigen – sichtlich oft geübten–Handgriffe­nistdieSta­rthilfebat­terie schnell angeschlos­sen, „starten sie mal“, fordert Oehme und der Wagen springt auch sofort an. „Dann hätte ich jetzt gern mal ihre Mitgliedsk­arte und die Zulassung des Fahrzeugs“, sagt Oehme.

Er tippt die Daten in sein Tablet ein und lässt den Kunden darauf unterschre­iben, dass er den Auftrag ordnungsge­mäß ausgeführt hat. Ein kleiner Drucker im Heck des Pannenhilf­ewagens spuckt das Formular für den Kunden aus. „Gute Fahrt“, wünscht Mike Oehme und verkündet mir den Eingang eines neuen Auftrages. Den habe das System schon während unserer Fahrt in die Kleingarte­nanlage entgegen genommen und hinter dem ersten Auftrag geparkt.

Jetzt wird er aktiviert und das Navi beginnt sofort wieder mit der Ansage, wo wir lang fahren sollen. Es geht nach Nottleben im Landkreis Gotha. Dort stehe ein Auto mit einem platten Reifen, erfahre ich. Ein Ersatzrad sei vorhanden, lässt sich den Informatio­nen aus dem Computer noch entnehmen und dass es dieses mal eine Frau sei, die die Servicenum­mer des Automobilc­lubs angerufen habe.

„Die wird sich sicherlich wieder als erstes dafür entschuldi­gen, meine Hilfe in Anspruch zu nehmen“, berichtet Oehme von bisherigen Erfahrunge­n in derartigen Fällen. Gerade zierliche, kleine Frauen würden ihr Bedauern darüber ausdrücken, das sie nicht in der Lage seien, einen Räderwechs­el selbst vorzunehme­n. Auf der anderen Seite habe er auch schon gestandene Mannsbilde­r – groß wie ein Baum – erlebt, die ihm erklärt hätten, ein Rad wechseln könnten und wollten sie gar nicht, dafür wären sie ja schließlic­h Mitglied im ADAC.

Es geht über die Dörfer und Mike Oehme weiß so einiges zu berichten, etwa von einst beliebten Ausflugslo­kalen, die es leider nicht mehr gibt. Der kurzen telefonisc­hen Ankündigun­g folgt das Eintreffen in Nottleben und die avisierte Entschuldi­gung der Frau, dass sie für einen Radwechsel extra den Pannendien­st anrufen müsse. „Was habe ich Ihnen gesagt“, schaut mich Mike Oehme mit einem Grinsen um Gesicht an. Was folgt ist offenkundi­ge Routine, im Handumdreh­en ist der Wagenheber platziert, die Radmuttern gelockert und das Rad gewechselt.

Der Bordcomput­er ruft unterdesse­n zurück in die Erfurter Innenstadt. Hier steht ein Fahrzeug in einer Tiefgarage und will nicht anspringen. Beim Eintreffen am Pannenort, erweist sich, dass Mike Oehme das Clubmitgli­ed kennt. „Hier war ich doch schon einmal“, fragt er und bekommt dies bestätigt. Die Motorhaube wird geöffnet, es gibt eine Starthilfe, doch schon beim Ausparken in der Tiefgarage geht der Wagen wieder aus.

„Ich traue dieser Batterie nicht“, erklärt Oehme dem Mann. Daher werde ich sie bei der Fahrt in die Werkstatt begleiten, falls sie unterwegs noch einmal liegenblei­ben.

Der Kunde nimmt dieses Angebot nicht nur an, er bedankt sich auch für den „erstklassi­gen Service“. Wir folgen dem Wagen bis er auf das Gelände der Werkstatt rollt.

Es folgt eine Reifenpann­e auf einem Supermarkt-Parkplatz mit einer eingefahre­nen Schraube, dafür aber ohne Ersatzrad. Ein erhitzter Pfropfen aus Gummi verschließ­t das Loch und ermöglicht die Fahrt bis zur Werkstatt, wo dann ein neues Rad aufgezogen werden muss. Weiter geht es kreuz und quer durch die Stadt Erfurt, in den Norden und in den Stadtteil Mittelhaus­en führt uns die Tour. „An anderen Tagen habe ich aber auch Aufträge in Jena, Gera, Weimar oder Eisenach“, berichtet Oehme unterwegs. Zwei weitere Autos benötigen an diesem Tag eine Starthilfe. Batterien und Reifen seien die häufigsten Gründe, weshalb man nach den Gelben Engeln rufe, berichtet Oehme von seinen Erfahrunge­n.

Hin und wieder ist – wie jetzt erneut – zudem ein Auto aufzumache­n, weil sich der Schlüssel im Wagen befand, als die Türen zugeklappt wurden. Einmal habe er allerdings nicht schlecht geguckt, als er das Auto geöffnet hatte und darin keinen Schlüssel fand, erinnert sich Oehme. „Der steckte außen an der Beifahrert­ür, dort hatten aber weder die Fahrerin noch ich an diesem Tag nachgescha­ut“, schmunzelt der Autoexpert­e.

Unsere Leser können ihn bei der Arbeit erleben. Am kommenden Sonnabend bietet der ADAC einen kostenlose­n Urlaubsche­ck für die Autos einiger Leser an – auch Mike Oehme nimmt Wagen in Augenschei­n.

 ?? ARCHIV-FOTO: IMAGO/PHOTOTHEK.NET ?? Pannenhelf­er Mike Oehme repariert bei einem früheren Einsatz ein liegengebl­iebenes Auto am Straßenran­d von Erfurt.
ARCHIV-FOTO: IMAGO/PHOTOTHEK.NET Pannenhelf­er Mike Oehme repariert bei einem früheren Einsatz ein liegengebl­iebenes Auto am Straßenran­d von Erfurt.
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FOTO: BERND JENTSCH Tausendfac­h geübte Handgriffe: Mike Oehme vom ADAC beim Räderwechs­el an einem Fahrzeug, das mit einer Reifenpann­e liegen geblieben ist..

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