Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Wandel beim Verständnis von Nachbarschaft
Weimarer Forscher: Beziehungen sind heute eher oberflächlich
Apolda. Dezentrale Unterbringung erleichtert nach Einschätzung eines Weimarer Stadtsoziologen nicht die Integration von Flüchtlingen. Zwar hätten viele Menschen noch ein eher klassisches Verständnis von Nachbarschaft, sagte Frank Eckardt auf einer Veranstaltung des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft Jena. In der Praxis werde diese Vorstellung aber nicht mehr gelebt. „Nachbarschaft bedeutet in der Regel nur noch, dass man sich auf der Straße grüßt“, sagte Eckardt. Dass Nachbarn sich wie früher üblich gegenseitig zu Hause besuchten, finde in der Praxis kaum noch statt. Seiner Meinung nach hat sich die Vorstellung davon gewandelt, was eine gute Nachbarschaft ausmacht. Eckardt ist Professor für sozialwissenschaftliche Stadtforschung an der Bauhaus-Universität Weimar. Er untersuchte mehrere Jahre mit Fallstudien in Thüringen, was Nachbarschaft für Menschen heute bedeutet. In seinen Forschungen sei auch immer wieder deutlich geworden, dass die Menschen zwar häufig sagten, sie seien bereit, ihren Nachbarn zu helfen, erklärte Eckhardt. Auf die Frage, ob sie dies tatsächlich schon einmal getan hätten, würden die meisten Menschen aber mit „Nein“antworten. Dies sei auch ein Grund dafür, dass die Integration von Flüchtlingen in Deutschland vielerorts so schwierig verlaufe. Selbst wenn Flüchtlinge als Nachbarn akzeptiert würden, würden sie zwar auf der Straße gegrüßt, aber durch ihre Nachbarn darüber hinaus nicht weiter in die deutsche Gesellschaft integriert, sagte Eckardt.
Bereitschaft zur Hilfe wird selten zur Realität
Erfurt. „Guten Morgen, es ist kurz vor neun und damit Dienstbeginn, ich melde mich erst mal an“, begrüßt mich Mike Oehme als wir uns treffen. Er tippt Daten in ein Tablet ein, das ihn den gesamten Tag begleiten wird. Keine zwei Minuten vergehen und der Rechner, der zwei dieser kleinen Tablets auf dem Armaturenbrett und im hinteren Teil des Wagens ansteuert, meldet den ersten Auftrag. „Es geht in eine Gartensiedlung, da steht ein Auto, das nicht mehr anspringt“, informiert mich Mike Oehme. Er hat dies alles vom Tablet abgelesen. Das gibt uns auch den Weg vor. Unmittelbar nachdem ein Kundenauftrag ausgelöst wurde, berechnet das Navi den Weg dorthin und gibt eine Wegführung vor. Er halte sich nicht immer daran, gesteht Oehme. Mitunter kennt er auch einen Schleichweg oder eine Abkürzung, auf denen man noch schneller ans Ziel gelangt. Kein Wunder, der Mann kennt das Straßennetz in Thüringen sehr gut, ist schon seit fast drei Jahrzehnten nahezu täglich kreuz und quer im Freistaat unterwegs. „Am 1. August 1990 habe ich beim ADAC angefangen“, verrät Oehme. Über die Jahre hat er dabei verschiedene Dienst-Fahrzeuge benutzt, deren Vor- und auch Nachteile erlebt. So hatte ein Transporter den Nachteil, das man damit nicht in Tiefgaragen einfahren konnte, weil er dafür zu hoch war. „Aber dafür konnte ich damit abschleppen“, erzählt Oehme während wir den ersten Schadensfall an diesem Tag ansteuern.
„So, laut Navi sind es noch fünf Minuten, Zeit das wir uns beim Fahrer anmelden“, erklärt Oehme. Die Telefonnummer des Kunden hat die Kollegin in der ADAC-Pannenzentrale mit abgefragt und ins System eingegeben. Daher reicht ein kurzes Tippen mit dem Finger und der Rechner bestätigt, dass gewählt werde. „Guten Morgen, hier ist der ADAC, wir werden gleich bei Ihnen sein, stehen sie am Fahrzeug“, fragt Oehme. Ja, er warte, bestätigt der Mann. Wenige Augenblicke sehen wir ihn winkend an einem dunklem Kleinwagen stehen.
Der Gelbe Engel parkt seinen Wagen daneben und schaltet die Warnblinkanlage ein. „Er startet nicht“, lautet die simple Botschaft des Mannes. Also erstmal Batterie testen, beschließt Mike Oehme. Die sei noch gar nicht lange eingebaut, versichert der Kunde. „Ich gebe ihnen jetzt Starthilfe und sie fahren dann in eine Werkstatt und lassen es überprüfen“, erklärt Oehme sein Vorhaben.
Mit wenigen – sichtlich oft geübten–HandgriffenistdieStarthilfebatterie schnell angeschlossen, „starten sie mal“, fordert Oehme und der Wagen springt auch sofort an. „Dann hätte ich jetzt gern mal ihre Mitgliedskarte und die Zulassung des Fahrzeugs“, sagt Oehme.
Er tippt die Daten in sein Tablet ein und lässt den Kunden darauf unterschreiben, dass er den Auftrag ordnungsgemäß ausgeführt hat. Ein kleiner Drucker im Heck des Pannenhilfewagens spuckt das Formular für den Kunden aus. „Gute Fahrt“, wünscht Mike Oehme und verkündet mir den Eingang eines neuen Auftrages. Den habe das System schon während unserer Fahrt in die Kleingartenanlage entgegen genommen und hinter dem ersten Auftrag geparkt.
Jetzt wird er aktiviert und das Navi beginnt sofort wieder mit der Ansage, wo wir lang fahren sollen. Es geht nach Nottleben im Landkreis Gotha. Dort stehe ein Auto mit einem platten Reifen, erfahre ich. Ein Ersatzrad sei vorhanden, lässt sich den Informationen aus dem Computer noch entnehmen und dass es dieses mal eine Frau sei, die die Servicenummer des Automobilclubs angerufen habe.
„Die wird sich sicherlich wieder als erstes dafür entschuldigen, meine Hilfe in Anspruch zu nehmen“, berichtet Oehme von bisherigen Erfahrungen in derartigen Fällen. Gerade zierliche, kleine Frauen würden ihr Bedauern darüber ausdrücken, das sie nicht in der Lage seien, einen Räderwechsel selbst vorzunehmen. Auf der anderen Seite habe er auch schon gestandene Mannsbilder – groß wie ein Baum – erlebt, die ihm erklärt hätten, ein Rad wechseln könnten und wollten sie gar nicht, dafür wären sie ja schließlich Mitglied im ADAC.
Es geht über die Dörfer und Mike Oehme weiß so einiges zu berichten, etwa von einst beliebten Ausflugslokalen, die es leider nicht mehr gibt. Der kurzen telefonischen Ankündigung folgt das Eintreffen in Nottleben und die avisierte Entschuldigung der Frau, dass sie für einen Radwechsel extra den Pannendienst anrufen müsse. „Was habe ich Ihnen gesagt“, schaut mich Mike Oehme mit einem Grinsen um Gesicht an. Was folgt ist offenkundige Routine, im Handumdrehen ist der Wagenheber platziert, die Radmuttern gelockert und das Rad gewechselt.
Der Bordcomputer ruft unterdessen zurück in die Erfurter Innenstadt. Hier steht ein Fahrzeug in einer Tiefgarage und will nicht anspringen. Beim Eintreffen am Pannenort, erweist sich, dass Mike Oehme das Clubmitglied kennt. „Hier war ich doch schon einmal“, fragt er und bekommt dies bestätigt. Die Motorhaube wird geöffnet, es gibt eine Starthilfe, doch schon beim Ausparken in der Tiefgarage geht der Wagen wieder aus.
„Ich traue dieser Batterie nicht“, erklärt Oehme dem Mann. Daher werde ich sie bei der Fahrt in die Werkstatt begleiten, falls sie unterwegs noch einmal liegenbleiben.
Der Kunde nimmt dieses Angebot nicht nur an, er bedankt sich auch für den „erstklassigen Service“. Wir folgen dem Wagen bis er auf das Gelände der Werkstatt rollt.
Es folgt eine Reifenpanne auf einem Supermarkt-Parkplatz mit einer eingefahrenen Schraube, dafür aber ohne Ersatzrad. Ein erhitzter Pfropfen aus Gummi verschließt das Loch und ermöglicht die Fahrt bis zur Werkstatt, wo dann ein neues Rad aufgezogen werden muss. Weiter geht es kreuz und quer durch die Stadt Erfurt, in den Norden und in den Stadtteil Mittelhausen führt uns die Tour. „An anderen Tagen habe ich aber auch Aufträge in Jena, Gera, Weimar oder Eisenach“, berichtet Oehme unterwegs. Zwei weitere Autos benötigen an diesem Tag eine Starthilfe. Batterien und Reifen seien die häufigsten Gründe, weshalb man nach den Gelben Engeln rufe, berichtet Oehme von seinen Erfahrungen.
Hin und wieder ist – wie jetzt erneut – zudem ein Auto aufzumachen, weil sich der Schlüssel im Wagen befand, als die Türen zugeklappt wurden. Einmal habe er allerdings nicht schlecht geguckt, als er das Auto geöffnet hatte und darin keinen Schlüssel fand, erinnert sich Oehme. „Der steckte außen an der Beifahrertür, dort hatten aber weder die Fahrerin noch ich an diesem Tag nachgeschaut“, schmunzelt der Autoexperte.
Unsere Leser können ihn bei der Arbeit erleben. Am kommenden Sonnabend bietet der ADAC einen kostenlosen Urlaubscheck für die Autos einiger Leser an – auch Mike Oehme nimmt Wagen in Augenschein.