Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Kaum mehr als freundliches Grüßen
Was die Deutschen unter guter Nachbarschaft verstehen, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten deutlich gewandelt. Auch die Flüchtlingskrise hat das gezeigt
Apolda. Bei ihrer Oma-Generation sei es noch ganz anders gewesen, sagt Madeleine Henfling. Ganz anders als heute. Ihre Oma, aufgewachsen in einem kleinen Dorf im Ilm-Kreis, habe noch für die Kranken in der Nachbarschaft mitgekocht. Heute sei das fast undenkbar. Die Menschen, sagt Henfling, die dort, in genau diesem Dorf, heute lebten, würden zwar auf der Straße freundlich grüßen. Doch wollten sie ansonsten kaum oder gar nichts mit ihren Nachbarn zu tun haben. Außer, schiebt sie nach, dass sie darüber redeten, wer gerade wieder was an seinem Haus gebaut habe, „um das jetzt mal ganz böse runterzubrechen“. Im Eiermannbau in Apolda bricht ein zustimmendes Gemurmel aus, als Henfling das sagt. Nicht nur die Grüne, die in Thüringen Landes- und Kommunalpolitik macht, hat offenbar solche Erfahrungen gemacht. Und nach dem, was Frank Eckardt am Freitag auf dieser Veranstaltung des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft Jena kurz zuvor ausgeführt hat, kann es auch gar nicht anders sein, müssen viele der Anwesenden im Saal solche Erlebnisse bereits selbst gemacht haben. Mehr noch, müssen auch mindestens einige von ihnen selbst zu denen gehören, die mit ihren Nachbarn lieber eher weniger als engen Kontakt haben. Denn, so lässt sich das zusammenfassen, was der Stadtsoziologe erklärt, in Deutschland hat sich das in den vergangen Jahren deutlich gewandelt, was Menschen unter guter Nachbarschaft verstehen. Die Beziehungen, die Menschen, die nebeneinander wohnen, heute zueinander haben, sind deutlich oberflächlicher geworden als sie das in der Vergangenheit waren. Dabei ist es nach den Forschungen von Eckardt gar nicht mal so, dass die Deutschen nicht den eher klassischen Vorstellungen von Nachbarschaft nachhängen. Der Wert der Nachbarschaft, sagt Eckardt, werde noch immer hochgehalten. Jedenfalls in der Theorie, in der Vorstellung „des übergroßen Teils“der Menschen im Freistaat und wohl auch darüber hinaus. Das hat der Professor für sozialwissenschaftliche Stadtforschung an der Bauhaus-Universität Weimar nach eigenen Angaben in den vergangenen Jahren anhand mehrerer Fallstudien in Thüringen in großen und kleinen Städten und auch in Dörfern
Frank Eckardt, Stadtsoziologe in Weimar
immer wieder gehört. Die Vorstellung also, dass man sich regelmäßig mit seinem Nachbarn austauscht, auch Probleme gemeinsam löst, sich vielleicht gegenseitig zum Abendessen einlädt.
In der Praxis allerdings werde diese Vorstellung von Nachbarschaft kaum noch gelebt. „Nachbarschaft bedeutet in der Regel nur noch, dass man sich auf der
Straße grüßt“, sagt Eckardt. Dass Nachbarn sich wie früher üblich gegenseitig zu Hause besuchten, finde dagegen in der Praxis kaum noch statt. In der Tendenz sei diese Entwicklung in großen und in kleinen Städten und im ländlichen Raum zu beobachten. Im Osten Deutschlands ebenso wie im Westen. Einen wichtigen Grund, den Eckardt für diese Entwicklung ausgemacht hat, ist die gestiegene Mobilität, die maßgeblich zu einer Erosion enger nachbarschaftlicher Beziehungen beiträgt. Wenn Menschen immer wieder viele Kilometer zur Arbeit oder zum Einkaufen führen oder ein paar Dutzend, vielleicht sogar ein paar hundert Kilometer, um Verwandte zu besuchen, bleibe ihnen weniger Zeit, die sie in der Nähe ihrer Nachbarn verbringen. Das habe freilich Folgen fürs Zusammenleben.
Ausgerechnet die Flüchtlingskrise von 2015 und 2016 sowie ihre Folgen haben dazu beigetragen, diese Entwicklung sichtbar zu machen – aber eben genau das und nicht mehr: Es sichtbar zu machen. Die Flüchtlingskrise ist nicht die Ursache dieser Entwicklung. Allerdings habe es maßgeblich mit diesem geänderten Konzept von Nachbarschaft zu tun, dass die Integration dieser Menschen in Deutschland sich so schwierig gestalte, sagt Eckhardt. Denn selbst dann, wenn Flüchtlinge als Nachbarn akzeptiert würden, würden sie zwar auf der Straße gegrüßt. „Aber das war es dann auch schon“, sagt Eckardt.
Mehr Integration sei über Nachbarschaft heute kaum mehr möglich, so Eckhardt. Ganz anders als zu den Zeiten von Henflings Oma.
„Statt von integrierten Nachbarschaften muss man heute vielerorts eher von desintegrierten Nachbarschaften reden.“