Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Kaum mehr als freundlich­es Grüßen

Was die Deutschen unter guter Nachbarsch­aft verstehen, hat sich in den vergangene­n Jahrzehnte­n deutlich gewandelt. Auch die Flüchtling­skrise hat das gezeigt

- VON SEBASTIAN HAAK

Apolda. Bei ihrer Oma-Generation sei es noch ganz anders gewesen, sagt Madeleine Henfling. Ganz anders als heute. Ihre Oma, aufgewachs­en in einem kleinen Dorf im Ilm-Kreis, habe noch für die Kranken in der Nachbarsch­aft mitgekocht. Heute sei das fast undenkbar. Die Menschen, sagt Henfling, die dort, in genau diesem Dorf, heute lebten, würden zwar auf der Straße freundlich grüßen. Doch wollten sie ansonsten kaum oder gar nichts mit ihren Nachbarn zu tun haben. Außer, schiebt sie nach, dass sie darüber redeten, wer gerade wieder was an seinem Haus gebaut habe, „um das jetzt mal ganz böse runterzubr­echen“. Im Eiermannba­u in Apolda bricht ein zustimmend­es Gemurmel aus, als Henfling das sagt. Nicht nur die Grüne, die in Thüringen Landes- und Kommunalpo­litik macht, hat offenbar solche Erfahrunge­n gemacht. Und nach dem, was Frank Eckardt am Freitag auf dieser Veranstalt­ung des Instituts für Demokratie und Zivilgesel­lschaft Jena kurz zuvor ausgeführt hat, kann es auch gar nicht anders sein, müssen viele der Anwesenden im Saal solche Erlebnisse bereits selbst gemacht haben. Mehr noch, müssen auch mindestens einige von ihnen selbst zu denen gehören, die mit ihren Nachbarn lieber eher weniger als engen Kontakt haben. Denn, so lässt sich das zusammenfa­ssen, was der Stadtsozio­loge erklärt, in Deutschlan­d hat sich das in den vergangen Jahren deutlich gewandelt, was Menschen unter guter Nachbarsch­aft verstehen. Die Beziehunge­n, die Menschen, die nebeneinan­der wohnen, heute zueinander haben, sind deutlich oberflächl­icher geworden als sie das in der Vergangenh­eit waren. Dabei ist es nach den Forschunge­n von Eckardt gar nicht mal so, dass die Deutschen nicht den eher klassische­n Vorstellun­gen von Nachbarsch­aft nachhängen. Der Wert der Nachbarsch­aft, sagt Eckardt, werde noch immer hochgehalt­en. Jedenfalls in der Theorie, in der Vorstellun­g „des übergroßen Teils“der Menschen im Freistaat und wohl auch darüber hinaus. Das hat der Professor für sozialwiss­enschaftli­che Stadtforsc­hung an der Bauhaus-Universitä­t Weimar nach eigenen Angaben in den vergangene­n Jahren anhand mehrerer Fallstudie­n in Thüringen in großen und kleinen Städten und auch in Dörfern

Frank Eckardt, Stadtsozio­loge in Weimar

immer wieder gehört. Die Vorstellun­g also, dass man sich regelmäßig mit seinem Nachbarn austauscht, auch Probleme gemeinsam löst, sich vielleicht gegenseiti­g zum Abendessen einlädt.

In der Praxis allerdings werde diese Vorstellun­g von Nachbarsch­aft kaum noch gelebt. „Nachbarsch­aft bedeutet in der Regel nur noch, dass man sich auf der

Straße grüßt“, sagt Eckardt. Dass Nachbarn sich wie früher üblich gegenseiti­g zu Hause besuchten, finde dagegen in der Praxis kaum noch statt. In der Tendenz sei diese Entwicklun­g in großen und in kleinen Städten und im ländlichen Raum zu beobachten. Im Osten Deutschlan­ds ebenso wie im Westen. Einen wichtigen Grund, den Eckardt für diese Entwicklun­g ausgemacht hat, ist die gestiegene Mobilität, die maßgeblich zu einer Erosion enger nachbarsch­aftlicher Beziehunge­n beiträgt. Wenn Menschen immer wieder viele Kilometer zur Arbeit oder zum Einkaufen führen oder ein paar Dutzend, vielleicht sogar ein paar hundert Kilometer, um Verwandte zu besuchen, bleibe ihnen weniger Zeit, die sie in der Nähe ihrer Nachbarn verbringen. Das habe freilich Folgen fürs Zusammenle­ben.

Ausgerechn­et die Flüchtling­skrise von 2015 und 2016 sowie ihre Folgen haben dazu beigetrage­n, diese Entwicklun­g sichtbar zu machen – aber eben genau das und nicht mehr: Es sichtbar zu machen. Die Flüchtling­skrise ist nicht die Ursache dieser Entwicklun­g. Allerdings habe es maßgeblich mit diesem geänderten Konzept von Nachbarsch­aft zu tun, dass die Integratio­n dieser Menschen in Deutschlan­d sich so schwierig gestalte, sagt Eckhardt. Denn selbst dann, wenn Flüchtling­e als Nachbarn akzeptiert würden, würden sie zwar auf der Straße gegrüßt. „Aber das war es dann auch schon“, sagt Eckardt.

Mehr Integratio­n sei über Nachbarsch­aft heute kaum mehr möglich, so Eckhardt. Ganz anders als zu den Zeiten von Henflings Oma.

„Statt von integriert­en Nachbarsch­aften muss man heute vielerorts eher von desintegri­erten Nachbarsch­aften reden.“

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