Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Leben auf dem Wasser
Einst war es die alternative Wohnform fur Hippies und Aussteiger. Heute gleichen Hausboote schwimmenden Einfamilienhausern mit allem Komfort
„Das Wasser ist dazu erschaffen, die wunderbaren
schwimmenden Bauwerke zu tragen, die man Schiffe nennt.“
François Fénelon, Schriftsteller
Plätscherndes Wasser, leichtes Schaukeln, ächzende Holzplanken. Auf einem Hausboot zu wohnen, stellen sich viele romantisch vor. Wer an die alten Boote auf den Grachten oder der Seine denkt, hat meistens eine Pénichette vor Augen. So heißen die flachen Lastschiffe, die ab den 1920erJahren vor allem von Künstlern in Paris bezogen wurden. Mittlerweile ähneln einige Hausboote jedoch eher schwimmenden Einfamilienhäusern. Die sogenannten Floating Homes stehen auf einem Ponton aus Beton und Styropor und können sogar mehrstöckig sein. Gutverdiener zahlen einiges dafür. Denn wo in der Stadt kann man schon so naturnah wohnen wie hier?
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Beliebter Drehort
Vor einigen Jahren konnte man es bei Ebay ersteigern: das hölzerne Hausboot, auf dem in den 80er-Jahren in Kanada die Serie „MacGyver“gedreht wurde. Klebeband, Büroklammer und Taschenmesser, mit deren Hilfe der Geheimagent jeden Fall löste, gab es allerdings nicht dazu. Offenbar hat seine Behausung auch deutsche Serienmacher inspiriert. Sowohl „Tatort“-Aussteiger Schimanski als auch Dirk Matthies im „Großstadtrevier“oder Leo Oswald in „Ein Fall für zwei“leben auf dem Wasser. Keine Ermittler oder Detektive spielten Sophia Loren und Cary Grant, als sie auf schaukelndem Grund drehten. Im Kinoklassiker „Hausboot“wurden sie 1958 als Filmpaar mit Kindern zur Patchworkfamilie auf dem Potomac River in Washington. Ihr Hausboot sah allerdings eher wie ein MississippiDampfer aus. Der Schauspieler Tom Hanks wuchs übrigens als Junge tatsächlich auf einem Hausboot in San Francisco auf.
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Der Hausboot-Krieg
In den 60er-Jahren entdeckten die Hippies in den USA das Leben auf dem Boot. In Sausalito in der Bucht von San Francisco entstand eine ganze Kommune von Bohemiens. Neben Schauspielern und Musikern lebten dort auch der englische Religionsphilosoph Alan Watts oder der Bestsellerautor Paul Hawken. Als die Stadtverwaltung Anfang der 70er-Jahre die Wassersiedlung mit Bulldozern räumen wollte, kam es zu den sogenannten Houseboat Wars. Die Geschichte dieser Auseinandersetzung wurde 1974 im Film „Last Free Ride“nacherzählt. Auch einige der echten Hausboot-Bewohner spielten darin mit. Letztendlich durften sie alle bleiben. Die Hausboot-Siedlung von Sausalito ist heute eine beliebte Touristenattraktion.
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Gegen den Wohnungsmangel
In vielen Metropolen herrscht Wohnungsmangel. Stadtplaner denken deshalb darüber nach, das Wohnen auf dem Wasser stärker zu fördern. In Kopenhagen soll bald eine schwimmende Studentenstadt entstehen. Den Prototyp für die Wasser-WG gibt es schon. Auch in London und Paris sind die Mieten hoch und die Immobilien rar. Mehrere Tausend Menschen leben dort mittlerweile auf Hausbooten. Wohnungsmangel gibt es auch in Berlin. Doch obwohl die deutsche Hauptstadt insgesamt mehr Wasserflächen hat als Amsterdam, ist es dort sehr schwer, aufs Wasser zu ziehen. Wer einen Platz für ein Hausboot sucht, muss zunächst selbst einen Liegeplatz finden und dann mehrere Behörden davon überzeugen, den Standort zu genehmigen. In Hamburg gibt es immerhin einen „Hausbootbeauftragten“, der bei Bedarf Interessierte berät.
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Dem Klimawandel trotzen
In Amsterdam sind die rund 2500 Hausboote auf den Grachten zu weltbekannten Ikonen geworden. In den Niederlanden hat das Leben auf dem Wasser aber nicht nur eine lange Tradition, es gilt auch als Wohnform der Zukunft. Ein Viertel des Landes liegt unter dem Meeresspiegel, sodass es besonders vom Klimawandel bedroht ist. Um sich auf den steigenden Meeresspiegel vorzubereiten, setzten Stadtplaner auf schwimmende Häuser mit hochmoderner Technik. So ist beispielsweise in Maasbommel, einem besonders hochwassergefährdeten Gebiet, eine ganze Siedlung mit 40 Floating Homes entstanden, die sich selbstständig dem Hochwasser anpassen. Steigt der Wasserspiegel, kann das gesamte Haus an zwei Stahlpfeilern mehrere Meter nach oben gleiten.
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Heim von Seenomaden
In anderen Teilen der Welt leben Menschen schon viel länger auf Hausbooten. Die Angehörigen des Seenomaden-Volks der Bajau zogen über 1000 Jahre auf ihren Hausbooten an den Küsten des Malaiischen Archipels in Südostasien entlang, um zu fischen. Nur selten betraten sie festen Boden. Ganze Familien lebten ausschließlich auf einem kleinen Holzschiff. Heute haben viele von ihnen feste Liegestellen für ihre Hausboote oder sind in Pfahlbauten vor den Inseln gezogen. Trotzdem gelten sie als staatenlos, besitzen weder Geburtsurkunde, Pässe noch irgendeine Nationalität. Da sie so sehr an die marine Lebensweise angepasst sind, können viele von ihnen enorm tief und lange tauchen, sodass sie inzwischen schon zum Forschungsobjekt internationaler Wissenschaftler geworden sind.
Hausboote und schwimmende
Häuser von Sandra Leitte, D-VA 2018, 224 Seiten, 29,95 Euro