Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Über Erschütterung
Der Saloon hat geschlossen – angeblich wegen eines Trauerfalls, wie Bill gerüchteweise im Dorf aufgeschnappt hat. Also grillen wir, mit gemischten Gefühlen, auf dem Platz hinter der Scheune. Während er behutsam die Steaks auflegt, murmelt Jack: „Habt ihr gehört, Leute, die Nachricht der Woche?“– „Huuh“, feixt Dick, „Trump kandidiert wieder. Zweite Amtszeit, zwanzig-zwanzig.“Streng blickt unser Alter in Dickies Grinsegesicht. Tonlos sagt er: „Das meine ich nicht. Ich meine das Erdbeben in Sezuan.“
„Da bin ich wirklich erschüttert“, antwortet Dick und wird ziemlich blass. Wir schweigen lange. „Ach was!“, müht sich Bill jetzt, die trüben Gedanken zu verscheuchen. „Es wäre eine unglaubliche Verkettung von Zufällen, wenn jemand, den wir kennen, einen Schaden erlitten hätte. Ein Erdbeben, na und? – So was kommt vor – am anderen Ende der Welt.“Jack zieht die Stirn kraus. Er räuspert sich und sagt: „Hoffentlich hast du recht.“
Da nehme ich es schließlich auf mich, dem lahmenden Gespräch eine positive Richtung zu geben. Ich stichele: „Bestimmt hat’s in China nur deshalb gekracht, weil bei uns in den Alpen die Gletscher abschmelzen.“– „Ach so?!“, fragt Jack und entkorkt endlich den Bushfire. „Lass hören, deine bekloppte Theorie.“
„Na gut“, sage ich, „wir sind uns doch einig, dass ein Klimawandel in komplexen, multifaktoriellen und exponentiell beschleunigten Prozessen verläuft?“– „Ja“, stöhnt Jack, „absolut. Aber sag’s bitte einfach.“Ich erkläre, dass all mein Wissen auf einer einzigen klugen TVSendung beruht. Demnach glauben Forscher, dass sich durch das großflächige Abschmelzen des Inland-Eises der physikalische Druck auf die entsprechende Erdplatte vermindert – zum Beispiel auf Grönland, in der Antarktis oder in den Hochgebirgen. Dies wiederum ziehe Spannungen in der Tektonik der Erdkruste nach sich, die an anderer, entlegener Stelle zur Erschütterung führe. Also zu Erdbeben und Vulkanausbrüchen. Letztere erhöhten wiederum den ZehOh-Zwei-Gehalt in der Atmosphäre, was die Eisschmelze weiter beschleunige. „Moment“, ruft Dick jetzt dazwischen. „Ich hab’ noch nicht genug getrunken, um das zu verstehen.“Wir prosten uns zu. Da zwitschert eine Ess-Emm-Ess in Dickies Hosentasche ein. Er zückt sein Eierfon – und wird abermals blass. „Oh nein“, stammelt er und rauft sich verzweifelt die Haare. Gespannt harren wir seiner Erklärung. „Von Shen-Te“, sagt er. „Aus Sezuan. Sie schreibt: ,Komme jetzt aus Hospital. Gehen gut mit Umständen entsprechend. Lieber Vetter Shui-Ta sein gestorben. Sein erschlagen von Bimbam von Kirche, wenn fallen runter.‘ Das ist alles.“
Der Kerl hat uns ja mehrfach vermöbelt. Trotzdem war er einer von uns – irgendwie. Den Rest des Abends verbringen wir schweigend.