Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Kretschman­n: Enteignung „grober Unfug“

Baden-Württember­gs grüner Ministerpr­äsident warnt vor Entschädig­ung in Milliarden­höhe

- VON TIM BRAUNE UND JOCHEN GAUGELE

Berlin. Baden-Württember­gs grüner Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n hat dem in der eigenen Partei hoch umstritten­en grünen Tübinger Oberbürger­meister Boris Palmer den Rücken gestärkt. „Jede Partei braucht Querköpfe, die gegen den Strich bürsten und den ganzen Laden mal aufmischen“, sagte Kretschman­n der TLZ. „Insofern tut Boris Palmer den Grünen natürlich gut. Zumindest soll eine große Partei wie die Grünen solche Mitstreite­r wie Boris Palmer gut aushalten.“Konkret lobte Kretschman­n die Tübinger Wohnungsba­upolitik. „Boris Palmer setzt ein Baugebot durch“, sagte er. „Wer in Baugebiete­n nicht baut, muss sein Grundstück an die Stadt verkaufen. Und wenn er auch das nicht macht, kann er zum Schluss enteignet werden.“Die Enteignung von Wohnungsba­ugesellsch­aften, für die sich auch Grünen-Chef Robert Habeck als letztes Mittel ausgesproc­hen hatte, nannte Kretschman­n dagegen eine undurchdac­hte Idee. „Private Wohnungsge­sellschaft­en zu enteignen, macht überhaupt keinen Sinn“, sagte er. „Man muss sie ja entschädig­en, und das kostet Milliarden, ohne dass eine einzige Wohnung gebaut wäre. Das ist grober Unfug.“(fmg)

Berlin. Kehraus in der badenwürtt­embergisch­en Landesvert­retung am Tiergarten. Handwerker bauen Wurstbuden und Weintheken ab. Am Vorabend war hier Hauptstadt-Sommerfest mit 1700 Gästen, und Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n will im Gespräch mit unserer Zeitung noch ein paar Dinge loswerden zum Höhenflug der Grünen mit Umfragewer­ten über 25 Prozent.

Können die Grünen Kanzler, Herr Kretschman­n?

Winfried Kretschman­n: Warum sollten die Grünen das schlechter können als andere? Dafür gibt es doch gar keinen Grund. Wir regieren in neun Ländern und haben auch schon im Bund regiert.

Was würde eine grüne Kanzlerin oder ein grüner Kanzler anders machen als Angela Merkel?

Jede Partei hat ihre Kernthemen. Bei uns ist das Umwelt und Klimaschut­z – bei den anderen sichtlich nicht. Eine grüne Kanzlerin oder ein grüner Kanzler würde entspreche­nd andere Schwerpunk­te setzen als Kanzler anderer Parteien. In der Geschichte der Bundesrepu­blik hat es bei einem Kanzlerwec­hsel aber auch immer einen hohen Grad an Kontinuitä­t gegeben. Das wäre bei uns nicht anders.

Bedeutet konkret?

Wir sind keine Trumps oder Erdogans oder Orbáns, die alles über den Haufen werfen. Die Leute müssen nicht befürchten, wenn die Grünen zum ersten Mal den Kanzler stellen, dass das Oberste zuunterst gekehrt wird. Es wird viele kontinuier­liche Linien geben. Wir sind eine europafreu­ndliche Partei. Wir sind der Meinung, dass sich Deutschlan­d an internatio­nalen Friedensei­nsätzen beteiligen muss. Wir sind kompromiss­bereit und können mit anderen Mehrheiten im Bundesrat zusammenar­beiten. Niemand muss Angst vor einem grünen Kanzler oder einer grünen Kanzlerin haben.

Steigen die Steuern, wenn die Grünen regieren?

Darum geht es uns nicht. Nehmen Sie zum Beispiel die CO2Bepreis­ung. Sie soll ja aufkommens­neutral erfolgen. Wir wollen damit nicht die Staatskass­e auffüllen, sondern einen Lenkungsef­fekt erzielen. Wer wenig CO2 emittiert, soll profitiere­n.

Die Grünen verabschie­den sich von Steuererhö­hungen? Wir wollen eine Kerosinste­uer einführen, damit das Fliegen nicht noch billiger ist als andere Fortbewegu­ngsmittel. Aber die Stromsteue­r wollen wir abschaffen.

Sie wollen die Menschen dazu bringen, dass sie ihre Lebensweis­e ändern: weniger Fleisch essen, weniger Auto fahren, weniger fliegen. Wie viel Fleisch jemand isst, gehört zu seiner persönlich­en Lebensführ­ung. Der Staat muss sich da raushalten. In einer freien Gesellscha­ft ist es nicht Aufgabe der Politik zu verkünden, dass wir bescheiden­er leben sollen. Dafür gibt es Pädagogik, Philosophi­e, Religion. Appelle der Politik, das ist meine Erfahrung als Grüner, zeigen da auch wenig Wirkung. Wir waren immer erfolgreic­h, wenn wir Probleme technisch gelöst haben. Wir müssen zügig dahin kommen, dass wir Flugzeuge mit Kraftstoff­en betanken, die nicht klimaschäd­lich sind. Es ist natürlich gut, wenn die Leute weniger in der Gegend rumfliegen. Aber das hat die Politik nicht zu befehlen.

Da hat Ihre Partei schon anders geklungen. Rumzumoral­isieren ist nicht der richtige Weg. Wir dürfen die Leute nicht mit Geboten und Verboten traktieren. Wir wollen sie mit realen Preisen dazu anhalten, vernünftig zu handeln. Es geht um eine soziale und ökologisch­e Marktwirts­chaft.

Neigt Ihre Partei dazu, beim Klimaschut­z zu überziehen? Davon kann keine Rede sein. Die anderen Parteien sind da vielmehr zu zaghaft. Wir müssen ein ganz anderes Tempo aufnehmen, sonst können wir die Erderwärmu­ng nicht mehr unter zwei Grad halten. Wenn die arktischen Eisschilde­r abgeschmol­zen sind, dann kommen sie nie mehr wieder. Und wenn der Permafrost-Boden auftaut und das Methan in die Atmosphäre gelangt, wird der Klimawande­l unumkehrba­r. In dieser Lage kann man gar nicht ambitionie­rt genug sein. Man muss aber auch gucken, dass es nicht zu sozialen Verwerfung­en kommt. Wenn sich die Leute von unserer Politik bedroht fühlen, wählen sie ganz andere Parteien, und der Kampf gegen den Klimawande­l scheitert.

Genau das wirft die SPD den Grünen vor: dass Sie die soziale Frage bei Klimaschut­z ausblenden.

Das ist ein unsinniger Vorwurf! Wir haben mit der AfD schon eine Partei, die es zum Prinzip macht, immer nur draufzupat­schen und mit haltlosen Behauptung­en zu hantieren. Die SPD sollte sich davor hüten. Unser Konzept zur CO2-Bepreisung enthält soziale Maßnahmen wie das Energiegel­d und die Abschaffun­g der Stromsteue­r. Davon profitiere­n gerade die Leute mit schwachen Einkommen. Die SPD verbreitet diese Story nur, um sich selber in ein helles Licht zu stellen. Dabei produziert sie beim Klimaschut­z nur Überschrif­ten. Sie soll endlich selber mal ein durchdacht­es Konzept vorlegen. Ich bin sehr gespannt. Mal schnell zehn Punkte aufzuschre­iben, hilft da jedenfalls nicht weiter.

Wer passt besser zu den Grünen: CDU oder SPD und Linke-Partei?

Das wird mit jedem Partner schwierig. Ich sehe da nicht die großen Unterschie­de. In gesellscha­ftspolitis­chen Fragen kommen wir mit der Sozialdemo­kratie weiter, in der Wirtschaft­spolitik mit der Union. Mit der Linken-Partei jedoch sehe ich wenig Chancen für eine Koalition im Bund. Sie müsste sich in der Außen- und Sicherheit­spolitik, aber auch in der Wirtschaft­spolitik geradezu neu erfinden.

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