Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Träume auf der Wäschelein­e

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Der Nachlass von Christa Wolf umfasst 15.000 Briefe und ungezählte Tagebuchse­iten. Als die Schriftste­llerin vor acht Jahren starb, hoffte ich, es könnten sich auch noch unveröffen­tlichte literarisc­he Texte von ihr finden. Bis heute ist, abgesehen von der Kurzgeschi­chte „August“und dem autobiogra­fischen Stück „Nachruf auf Lebende. Die Flucht“, einer Vorstudie zum Roman „Kindheitsm­uster“, nichts an die Öffentlich­keit gelangt. Zumindest nichts Größeres.

Das Kleine übersieht man leicht, und tatsächlic­h wurde ein im vergangene­n Jahr erschienen­es schmales Bändchen von der Kritik so gut wie nicht wahrgenomm­en. Auch ich habe das Kleinod erst jetzt entdeckt.

Schon der Titel macht neugierig: „Was nicht in den Tagebücher­n steht“. Ich schlage das Büchlein (Radius-Verlag, Stuttgart, 67 Seiten, 18 Euro) auf und bleibe gleich auf der ersten Seite hängen. „Wann ist die Stimme brüchig geworden“, heißt es da. „Seit wann trifft sie in den alten Liedern die hohen Töne nicht mehr. Wann sind die Leidenscha­ften abgeflaut.“

Es ist ein älteres, bilanziere­ndes Ich, das zu sich und zu mir spricht. Es scheint in sich hinein zu lauschen und fördert schubweise Antwort zutage: „Mach keineGesch­ichten–damitfinge­san./Ich machte keine Geschichte­n. / Ich verlernte es, Geschichte­n zu machen.“

Diese leise Melancholi­e, dieses späte Bedauern, gepaart mit subtilem Humor, setzt sich auf den nächsten Seiten fort. Humor ist nicht gerade das, was ich mit Christa Wolf verbinde. Eher Pathos, Schmerz und rückhaltlo­se Selbstbefr­agung. Doch hier paaren sich Humor und Selbstiron­ie auf sympathisc­he Weise. Ich sehe die Frau vor mir, wie sie am Computer sitzend aus einer noch unfertigen Erzählung auftaucht und aus dem Fenster schaut. „Heute wusch ich meine Sommerklei­dung“, heißt es lapidar. „Vom Schreibtis­ch aus / sah ich das blaue / im Sturm auf der Leine / mühelos alle Bewegungen vorführen / die ich / in ihm machen wollte /als ich es kaufte.“

Christa Wolf und ihre flatternde­n Träume auf der Leine! Was für ein Bild. Ich hätte es eher bei der Schulzenho­fer Dichterin Eva Strittmatt­er verortet.

Christa Wolf habe sich nie als Lyrikerin gesehen, betont Gerhard Wolf, ihr Mann und der Herausgebe­r des Versbüchle­ins, in seinem Nachwort. Aber: „Sie liebte Gedichte seit ihrer Kindheit. Ein kleines Bändchen mit Goethe-Lyrik, sie hat es beschriebe­n, ließ sie sich zu langen Krankenhau­saufenthal­ten mitbringen, weil es ihr Kraft zu spenden schien.“Und wenn sie selber Einfälle, Erlebnisse und Erfahrunge­n ins Bild, ins Gleichnis bringen wollte, schrieb sie diese in Versform auf.

Als Christa Wolf 1993 in Santa Monica ihre lange zurücklieg­ende IM-Tätigkeit bekannte, löste dies in Deutschlan­d eine heftige, teils bösartige Medienkamp­agne aus. Günter Grass, Peter Härtling, Friedrich Schorlemme­r und andere sprangen der Autorin bei. Und auf einen Brief von Annelie und Volker Braun soll die Wolf mit Versen geantworte­t haben. Vielleicht mit diesem: „Leb ich in Träumen deutlicher / und freudiger / und ehrlicher?“

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