Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
„Ich bin bereit anzutreten, wenn ihr das wollt“
Mit Vizekanzler Olaf Scholz meldet sich das erste politische Schwergewicht für die Urwahl
Bei der SPD ging es am Freitag Schlag auf Schlag. In der Pressestelle im Willy-BrandtHaus trauten sie sich kaum, ihre Multimediaplätze für ein paar Minuten zu verlassen. „Noch jemand? Sonst würden wir kurz Mittagspause machen“, twitterte das SPD-Team verzückt. Denn herrschte am Tag zuvor nach der Absage von Franziska Giffey noch Katerstimmung, machte sich plötzlich wieder Zuversicht breit. Für 12.30 Uhr sollte der Auftritt von Gesine Schwan und Ralf Stegner in der Bundespressekonferenz eigentlich der Höhepunkt zum Wochenausklang sein. Doch am Morgen sickerte durch, dass ein Niedersachse und eine Sächsin sich gefunden haben.
Boris Pistorius, der SPD-Innenminister aus Hannover, und Petra Köpping, in Dresden Integrationsministerin. Die beiden katapultierten sich aus dem Nichts an die Spitze des Bewerberfeldes. So sah es aus. Dann aber meldete der „Spiegel“, dass endlich ein A-Promi bei der zähen Suche nach einer neuen Parteispitze in Sicht ist. Olaf Scholz. Der Finanzminister und Vizekanzler vollzog damit eine spektakuläre Kehrtwende.
„Ich bin bereit anzutreten, wenn ihr das wollt“, sagte Scholz am Montag in einer Telefonschalte mit den Interimsvorsitzenden Malu Dreyer, Manuela Schwesig und Thorsten Schäfer-Gümbel. Im Juni hatte er noch im ARD-Talk „Anne Will“erklärt: „Ich will nicht Parteivorsitzender werden. Das ist mit dem Amt eines Ministers der Finanzen nicht zu schaffen.“In den vergangenen Tagen aber wuchs der Druck auf Scholz und andere immens, Verantwortung
zu übernehmen. Wie unsere RedaktionausSPD-Kreisenerfuhr, wird Scholz nicht alleine antreten. „Es wird eine Teamlösung geben.“Manuela Schwesig bleibt dem Vernehmen nach strikt bei ihrem Nein. Scholz, der zum konservativen, wirtschaftsnahen Lager in der SPD gehört, bräuchte eine Frau aus dem linken Flügel. Gibt es eine Blitz-Rückkehr von Katarina Barley? Die Bundesjustizministerin hatte nach der Europawahl, in die sie als deutsche SPD-Spitzenkandidatin gegangen war, ihren Posten abgegeben und war nach Brüssel gezogen. Im Europaparlament in Straßburg ist sie Vizepräsidentin. Wahrscheinlich ist das nicht. Aber in der SPD ist derzeit vieles möglich.
Klar ist, dass Scholz als MitArchitekt der ungeliebten großen Koalition in der SPD enorm polarisiert. Für die Jusos ist er ein Feinbild und steht mitnichten für die nach der dramatisch verlorenen Bundestagswahl 2017 versprochene Erneuerung. Der Sprecher der Parteirechten vom Seeheimer Kreis, Johannes Kahrs, ein enger Scholz-Vertrauter, begrüßte die Entscheidung: Scholz habe „Augenhöhe und Durchschlagskraft gegenüber Merkel, Söder und KrampKarrenbauer“. Hamburgs Regierungschef Peter Tschentscher, der auf dem Posten Scholz nachfolgte, sagte, dessen Kandidatur wäre eine große Chance für die SPD. „Olaf Scholz ist einer der besten Politiker Deutschlands. Seine Bereitschaft, den Bundesvorsitz zu übernehmen, würde großen Zuspruch bei den Mitgliedern der SPD finden.“Scholz selbst ist ungeachtet niederschmetternder Umfragewerte fest davon überzeugt, dass die SPD ein Comeback schaffen kann. „Die Chance, stärkste Partei zu werden, ist bei der nächsten Bundestagswahl deutlich größer als in vielen Jahren zuvor“, sagte er im Sommer. Zum ersten Mal seit 1949 werde es bei der nächsten Wahl einen Wettbewerb um das Kanzleramt geben, „bei dem keine Partei einen Kanzler oder eine Kanzlerin ins Rennen schickt“. Tatsächlich werden spätestens 2021 ohne Angela Merkel die Karten neu gemischt. Aber übersteht die große Koalition die im Herbst anstehende Halbzeitbilanz? Am Sonntag treffen sich die Parteiund Fraktionschefs von CDU, CSU und SPD bei Merkel, um einen Fahrplan abzustimmen. SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach, der sich auch für den Parteivorsitz bewirbt, erwartet jedenfalls jetzt einen „klaren Lagerwahlkampf“. Auf der einen Seite stünden er und Nina Scheer mit einem rot-grünen Linkskurs und dem Versprechen, die große Koalition zu verlassen. „Auf der anderen Seite stehen Scholz und Pistorius mit einem Pro-GroKo-Kurs“, sagt Lauterbach.
Viel Rückenwind bekam derweil Boris Pistorius aus seinem Landesverband Niedersachsen. „Er ist ein versierter, erfahrener und durchsetzungsstarker Politiker und vor allem durch und durch ein Sozialdemokrat“, sagte Ministerpräsident Stephan Weil, der selbst nicht antreten will. Ex-Parteichef Sigmar Gabriel machte sich für das Duo Pistorius/Köpping stark: „Das ist die erste ernst zu nehmende Kandidatur. Sie würde dazu führen, dass die SPD wirklich eine Erneuerung bekommt“, sagte er der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“. Gabriel war nach der Bundestagswahl von Nahles und Scholz ausgebootet worden und musste als Außenminister aufhören.
Kalt erwischt wurden Schwan und Stegner von dem Kandidatenreigen. Mit dem Vorpreschen des Vizekanzlers sind sie nur die Begleitmusik. Ob sie überrascht oder verärgert seien, dass nun auch Scholz antrete, wurden die beiden gefragt. Er finde das „großartig“, dass ihre Kandidatur Bewegung in den Wettbewerb gebracht habe, sagte Stegner. Die Tour durchs Land – es wird 23 Regionalkonferenzen geben – in den nächsten Wochen werde nicht langweilig werden.
Gleich zweimal betonte Stegner, dass er „eine Menge Kampfkraft“habe. Er sei 15 Jahre lang Fußball-Schiedsrichter gewesen. Diese Erfahrung habe ihn abgehärtet und helfe ihm auch im politischen Geschäft. Die 76jährige Schwan dagegen sagt, sie sei zwar alt, „aber ich fühle mich nicht so“. Tatsächlich rudert sie viel mit den Armen, dreht sich unablässig auf ihrem Stuhl hin und her, spricht mit kraftvoller Stimme und sehr leidenschaftlich. Die beiden machen den Eindruck, als würden sie sich gut verstehen. Oft betonen sie, wie gut sie sich schon kennen würden. Dabei haben sie offenbar erst am Mittwoch entschieden, es gemeinsam zu wagen.
„Olaf Scholz ist einer der besten Politiker Deutschlands“Peter Tschentscher, Erster Bürgermeister Hamburgs