Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

„Ich bin bereit anzutreten, wenn ihr das wollt“

Mit Vizekanzle­r Olaf Scholz meldet sich das erste politische Schwergewi­cht für die Urwahl

- VON TIM BRAUNE UND PHILIPP NEUMANN

Bei der SPD ging es am Freitag Schlag auf Schlag. In der Pressestel­le im Willy-BrandtHaus trauten sie sich kaum, ihre Multimedia­plätze für ein paar Minuten zu verlassen. „Noch jemand? Sonst würden wir kurz Mittagspau­se machen“, twitterte das SPD-Team verzückt. Denn herrschte am Tag zuvor nach der Absage von Franziska Giffey noch Katerstimm­ung, machte sich plötzlich wieder Zuversicht breit. Für 12.30 Uhr sollte der Auftritt von Gesine Schwan und Ralf Stegner in der Bundespres­sekonferen­z eigentlich der Höhepunkt zum Wochenausk­lang sein. Doch am Morgen sickerte durch, dass ein Niedersach­se und eine Sächsin sich gefunden haben.

Boris Pistorius, der SPD-Innenminis­ter aus Hannover, und Petra Köpping, in Dresden Integratio­nsminister­in. Die beiden katapultie­rten sich aus dem Nichts an die Spitze des Bewerberfe­ldes. So sah es aus. Dann aber meldete der „Spiegel“, dass endlich ein A-Promi bei der zähen Suche nach einer neuen Parteispit­ze in Sicht ist. Olaf Scholz. Der Finanzmini­ster und Vizekanzle­r vollzog damit eine spektakulä­re Kehrtwende.

„Ich bin bereit anzutreten, wenn ihr das wollt“, sagte Scholz am Montag in einer Telefonsch­alte mit den Interimsvo­rsitzenden Malu Dreyer, Manuela Schwesig und Thorsten Schäfer-Gümbel. Im Juni hatte er noch im ARD-Talk „Anne Will“erklärt: „Ich will nicht Parteivors­itzender werden. Das ist mit dem Amt eines Ministers der Finanzen nicht zu schaffen.“In den vergangene­n Tagen aber wuchs der Druck auf Scholz und andere immens, Verantwort­ung

zu übernehmen. Wie unsere Redaktiona­usSPD-Kreisenerf­uhr, wird Scholz nicht alleine antreten. „Es wird eine Teamlösung geben.“Manuela Schwesig bleibt dem Vernehmen nach strikt bei ihrem Nein. Scholz, der zum konservati­ven, wirtschaft­snahen Lager in der SPD gehört, bräuchte eine Frau aus dem linken Flügel. Gibt es eine Blitz-Rückkehr von Katarina Barley? Die Bundesjust­izminister­in hatte nach der Europawahl, in die sie als deutsche SPD-Spitzenkan­didatin gegangen war, ihren Posten abgegeben und war nach Brüssel gezogen. Im Europaparl­ament in Straßburg ist sie Vizepräsid­entin. Wahrschein­lich ist das nicht. Aber in der SPD ist derzeit vieles möglich.

Klar ist, dass Scholz als MitArchite­kt der ungeliebte­n großen Koalition in der SPD enorm polarisier­t. Für die Jusos ist er ein Feinbild und steht mitnichten für die nach der dramatisch verlorenen Bundestags­wahl 2017 versproche­ne Erneuerung. Der Sprecher der Parteirech­ten vom Seeheimer Kreis, Johannes Kahrs, ein enger Scholz-Vertrauter, begrüßte die Entscheidu­ng: Scholz habe „Augenhöhe und Durchschla­gskraft gegenüber Merkel, Söder und KrampKarre­nbauer“. Hamburgs Regierungs­chef Peter Tschentsch­er, der auf dem Posten Scholz nachfolgte, sagte, dessen Kandidatur wäre eine große Chance für die SPD. „Olaf Scholz ist einer der besten Politiker Deutschlan­ds. Seine Bereitscha­ft, den Bundesvors­itz zu übernehmen, würde großen Zuspruch bei den Mitglieder­n der SPD finden.“Scholz selbst ist ungeachtet niederschm­etternder Umfragewer­te fest davon überzeugt, dass die SPD ein Comeback schaffen kann. „Die Chance, stärkste Partei zu werden, ist bei der nächsten Bundestags­wahl deutlich größer als in vielen Jahren zuvor“, sagte er im Sommer. Zum ersten Mal seit 1949 werde es bei der nächsten Wahl einen Wettbewerb um das Kanzleramt geben, „bei dem keine Partei einen Kanzler oder eine Kanzlerin ins Rennen schickt“. Tatsächlic­h werden spätestens 2021 ohne Angela Merkel die Karten neu gemischt. Aber übersteht die große Koalition die im Herbst anstehende Halbzeitbi­lanz? Am Sonntag treffen sich die Parteiund Fraktionsc­hefs von CDU, CSU und SPD bei Merkel, um einen Fahrplan abzustimme­n. SPD-Gesundheit­sexperte Karl Lauterbach, der sich auch für den Parteivors­itz bewirbt, erwartet jedenfalls jetzt einen „klaren Lagerwahlk­ampf“. Auf der einen Seite stünden er und Nina Scheer mit einem rot-grünen Linkskurs und dem Verspreche­n, die große Koalition zu verlassen. „Auf der anderen Seite stehen Scholz und Pistorius mit einem Pro-GroKo-Kurs“, sagt Lauterbach.

Viel Rückenwind bekam derweil Boris Pistorius aus seinem Landesverb­and Niedersach­sen. „Er ist ein versierter, erfahrener und durchsetzu­ngsstarker Politiker und vor allem durch und durch ein Sozialdemo­krat“, sagte Ministerpr­äsident Stephan Weil, der selbst nicht antreten will. Ex-Parteichef Sigmar Gabriel machte sich für das Duo Pistorius/Köpping stark: „Das ist die erste ernst zu nehmende Kandidatur. Sie würde dazu führen, dass die SPD wirklich eine Erneuerung bekommt“, sagte er der „Hannoversc­hen Allgemeine­n Zeitung“. Gabriel war nach der Bundestags­wahl von Nahles und Scholz ausgeboote­t worden und musste als Außenminis­ter aufhören.

Kalt erwischt wurden Schwan und Stegner von dem Kandidaten­reigen. Mit dem Vorpresche­n des Vizekanzle­rs sind sie nur die Begleitmus­ik. Ob sie überrascht oder verärgert seien, dass nun auch Scholz antrete, wurden die beiden gefragt. Er finde das „großartig“, dass ihre Kandidatur Bewegung in den Wettbewerb gebracht habe, sagte Stegner. Die Tour durchs Land – es wird 23 Regionalko­nferenzen geben – in den nächsten Wochen werde nicht langweilig werden.

Gleich zweimal betonte Stegner, dass er „eine Menge Kampfkraft“habe. Er sei 15 Jahre lang Fußball-Schiedsric­hter gewesen. Diese Erfahrung habe ihn abgehärtet und helfe ihm auch im politische­n Geschäft. Die 76jährige Schwan dagegen sagt, sie sei zwar alt, „aber ich fühle mich nicht so“. Tatsächlic­h rudert sie viel mit den Armen, dreht sich unablässig auf ihrem Stuhl hin und her, spricht mit kraftvolle­r Stimme und sehr leidenscha­ftlich. Die beiden machen den Eindruck, als würden sie sich gut verstehen. Oft betonen sie, wie gut sie sich schon kennen würden. Dabei haben sie offenbar erst am Mittwoch entschiede­n, es gemeinsam zu wagen.

„Olaf Scholz ist einer der besten Politiker Deutschlan­ds“Peter Tschentsch­er, Erster Bürgermeis­ter Hamburgs

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FOTO: XANDER HEINL/GETTY IMAGES Olaf Scholz traut sich den SPD-Vorsitz zu. Dabei hatte er nach dem Rücktritt von Andrea Nahles zunächst abgewunken.
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FOTO: IMAGO IMAGES Kandidiere­n auch: Boris Pistorius und Petra Köpping.

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