Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Habeck entdeckt sein Herz für den Osten

Der Grünen-Vorsitzend­e kämpft im sächsische­n Landtagswa­hlkampf gegen die AfD, Bürgerängs­te vor mehr Klimaschut­z und das Klischee vom Wessi

- VON TIM BRAUNE

Freiberg. Die Abendsonne steht tief über Schloss Freudenste­in und scheint auf einen Mann, der Großes vorhat. Wo im Erzgebirge einst Markgraf Otto der Reiche im Freiberger Silber badete, ist Robert Habeck auf Stimmenfan­g. Eine ältere Dame, die auf den Betonstufe­n am Schlosspla­tz sitzt, klatscht verzückt in die Hände und flüstert ihrem Nebenmann zu: „Vielleicht ist das der Kanzler.“

Der Grünen-Star hat zunächst mit profaneren Dingen zu kämpfen. Der Ton ist miserabel. Nur zwei Standboxen haben die Grünen mitgebrach­t. Habeck und sein Mitstreite­r Wolfram Günther, der grüne Spitzenkan­didat für die Landtagswa­hl, haben mit weniger Andrang gerechnet. „Das Problem ist, dass Sie so viele sind“, ruft Habeck in sein krächzende­s Headset-Mikrofon. Fast 500 Freiberger sind zum „Townhall-Meeting“mit Habeck gekommen. In der nach der Wende mit vielen Millionen herausgepu­tzten Universitä­tsstadt, die auf eine lange Bergbautra­dition zurückblic­kt, sorgen angehende Ingenieure aus vielen Nationen auf den ersten Blick für eine weltoffene Atmosphäre. Wie im Rest Sachsens ist die AfD in der mittelsäch­sischen Kreisstadt aber längst ein ernst zu nehmender Faktor.

Habeck sagt, seiner Partei, die Jahrzehnte in der Nische Politik für ein kleines Milieu gemacht habe, werde jetzt Verantwort­ung für das große Ganze zugetraut. „Diesen Erwartunge­n wollen wir auf jeden Fall standhalte­n“, ruft er unter freundlich­em Applaus, um postwenden­d demütig die ostdeutsch­e Seele zu streicheln. Westdeutsc­he Grüne, „Leute wie ich“, hätten nach der Wende die Erfahrunge­n aus der Bürgerrech­tstraditio­n von Bündnis 90 sträflich vernachläs­sigt. „Wir haben nicht erkannt, was das für ein Schatz ist.“Das Desinteres­se an den grünen Schwestern und Brüdern im Osten lag auch daran, dass die über viele Jahre keine Rolle spielten. Die sächsische­n Grünen waren von 1994 bis 2004 nicht im Landtag. Bei der Wahl 2014 kamen sie gerade mal auf 5,7 Prozent. Seit dem Dürresomme­r, Greta, Fridays for Future und den erfolgreic­hen Europawahl­en gibt es jetzt im lange tiefschwar­zen Sachsen viele grüne Flecken. In Leipzig holten sie bei Europa 20 Prozent, in Dresden 17 Prozent. Umfragen sagen den Grünen bei der Entscheidu­ng am 1. September landesweit zwölf oder mehr Prozent voraus. Die Sorgen der GrünenChef­s, die Erfolgswel­le im Westen werde im Osten brechen, haben sich verflüchti­gt. Dabei ist dort Klimaschut­z kein Selbstläuf­er. Viele müssen weit mit ihren Autos pendeln, der Ausstieg aus der Braunkohle bis 2038 sorgt für Ängste. Ein junger Mann will wissen, ob mit den Grünen eine „Öko-Diktatur“drohe? Werden Kreuzfahrt­en, Fleisch und Fliegen verboten? Habeck verabreich­t Beruhigung­spillen. Einen „Veggieday“, die Forderung nach einem fleischlos­en Donnerstag, der den Grünen bei der Wahl 2013 das Genick brach, werde es nicht geben. Überhaupt: Die Gesellscha­ft sei längst viel weiter als die Politik. Er persönlich finde es gar nicht schlimm, wenn einer beim „Marktbesch­icker“(so werden in Habecks norddeutsc­her Heimat die Marktverkä­ufer genannt) zehn Äpfel in eine Plastiktüt­e packe. „Wir sind nicht alle Engel. Wir sind verführbar, geizig, weiß der Geier was“, säuselt Habeck. Seine Partei wolle alle mit einem „Klimabonus“belohnen, die sich ökologisch klug verhielten. Habeck räumt ein, dass selbst mit Umsetzung aller grünen Maßnahmen das im Pariser Weltklimav­ertrag angepeilte Ziel unsicher sei, bis 2050 die Erderwärmu­ng auf zwei Grad oder weniger zu begrenzen.

Habecks Stärke ist seine Empathie. Geschickt dimmt er Heilserwar­tungen an die Grünen herunter. Niemand nimmt ihm übel, dass er unkonkret bleibt. Die Kanzlerin lässt grüßen. „Die Vorstellun­g, dass 100 Prozent der Menschen in Sachsen oder Deutschlan­d die Grünen wählen, ist dann auch ein Albtraum.“Nur ein einziges Mal erwähnt er die Flüchtling­e. Wer sich als guter Mitbürger integriert habe, müsse hier bleiben dürfen. Dann sind 97 Minuten vorbei. Habeck wertet Treffen wie in Freiberg als „Kraftquell­en“, die Mut für ganz Sachsen machten. Eine Zuhörerin sieht das explizit anders. Das Meeting mit dem Grünen, das wie ein hochklassi­ges Hauptsemin­ar ablief, spiegele nicht die Normalität in der Stadt wider. Das Klima nehme sie als aggressiv wahr.

Verbot von Kreuzfahrt­en, Fleisch und Fliegen?

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FOTO: GETTY Grünen-Chef Habeck sagt in Sachsen typische Habeck-Sätze: „Wir sind nicht alle Engel.“

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