Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Ein Leben aus dem Koffer Diplom-Sozialpäda­gogin Anja Cellner aus Erfurt schreibt zum TLZ-Bericht über das sogenannte Wechselmod­ell für getrennt lebende Eltern und die Stellungna­hme der Parteien unter anderem:

Das Wechselmod­ell stellt gerade für kleine Kinder eine hohe Belastung dar

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Momentan ist die Diskussion um eine paritätisc­he Betreuung der Kinder nach Trennung oder Scheidung nicht nur in der Diskussion. Sie wird vielmehr hier in Thüringen ohne echte Einzelfall­prüfung als das Modell nach Trennung oder Scheidung angeordnet.

„Ich habe das Gefühl, ständig entwurzelt worden zu sein. Ich leide unter einer gewissen Instabilit­ät. Ich kann nicht in eine Beziehung kommen, um eine Familie zu gründen.“Das sagt – aus dem Französisc­hen übersetzt – ein 35 Jahre alter Mann, der mit drei Jahren ins Wechselmod­ell kam. Und es beschreibt sehr gut die Situation der Kinder, die in einem paritätisc­hen Wechselmod­ell leben müssen. Vor allem Babys, Kleinstkin­der und Kinder bis zu sechs Jahren benötigen einen besonderen Schutz. Kinder sind aufgrund der ständigen Belastung und des ständigen Wechsels zwischen den Haushalten zerrissen und völlig überforder­t. Sie leben nach einem Kalender, Zeit und Tage sind fest vorgeschri­eben. An Familienfe­iern, Geburtstag­en der Eltern und Freunde können sie teilnehmen oder auch nicht, je nachdem, wie die Umgangstag­e liegen. Freundscha­ften pflegen ist nur nach Kalender möglich. Auch für Kinder ab sechs Jahren führt ein Leben aus dem Koffer zu extremen Belastunge­n, fordert permanente Verzichte, erschwert die Teilnahme am Vereinsleb­en wie Sport und Musik. Kinder brauchen Stabilität, Kontinuitä­t und Routine, dazu benötigen sie einen festen Lebensmitt­elpunkt, einen Ort, wo sie ankommen und zur Ruhe kommen können.

Kinder, die ständig wechseln müssen, lernen schnell sich anzupassen, zu funktionie­ren, sie resigniere­n, sie spalten ihre Persönlich­keit und switchen um, um dem jeweiligen Elternteil zu gefallen, ein eigenes Ich können sie nicht entwickeln. Sie lassen keine Bindung zu, vor Angst, wieder verlassen zu werden. Gerade in sehr jungem Alter leiden die Kinder extrem unter der ständigen Veränderun­g und sind verunsiche­rt. Sie sind geprägt von Trennungsä­ngsten, sind völlig überforder­t, müde und bindungsge­stört. Sie entwickeln Schlafstör­ungen und Aggression­en gegen sich und andere. Die meisten Kinder müssen früher oder später therapeuti­sche Hilfe in Anspruch nehmen, meist lehnen Psychologe­n eine Therapie ab, solange das Wechselmod­ell noch besteht, da eine Re-Traumatisi­erung mit jedem Wechsel passiert.

Der VAMV, das Deutsche Jugendinst­itut, deutscher Juristinne­nbund, Verband deutscher Psychologi­nnen und Psychologe­n, Deutsche Gesellscha­ft für Psychologi­e fordern, dass das Wechselmod­ell eine Alternativ­e zu anderen Betreuungs­modellen darstellt, unter Berücksich­tigung einer Einzelfall­prüfung, der daraus resultiere­nden Prüfung der Kindeswohl­dienlichke­it und damit den Anspruch auf ein ergebnisof­fenes Verfahren. Jedes Kind ist individuel­l, und dies sollte unbedingt berücksich­tigt werden.

Das Bundesverf­assungsger­icht spricht davon, dass das Wohl des Kindes oberstes Regelungsp­rinzip ist und die Elterninte­ressen dahinterst­ehen. Professor Dr. Maywald von der Deutschen Liga für das Kind sagte: „Kinder sind kein Besitz, den man aufteilen kann, das Wohl des Kindes ist ein Grundsatz, der zu berücksich­tigen ist.“

Leider findet dies an deutschen Gerichten und auch hier in Thüringen kaum noch Beachtung. Es wird nicht mehr ergebnisof­fen und im Einzelfall das Kindswohl geprüft. Gerade die bei einem Wechselmod­ell wichtige Kommunikat­ion und Kooperatio­n wird als nebensächl­ich dargestell­t, das Kind fungiert dann als Schlichter und Vermittler. Wir fordern die Politik, die Gerichte und auch die Jugendämte­r auf, die Kinder wieder in den Focus zu rücken und in deren Sinn zu entscheide­n. Schluss mit dem Wechselmod­ell unter sechs Jahren.

Wir als Initiative Leuchtturm für Kinder Thüringen sind den Fraktionen des Landtags dankbar für die eindeutige Stellungna­hme zum Schutz der Kinder.

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