Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Freiheit auf Boje 2A

Heute vor 50 Jahren floh Axel Mitbauer aus der damaligen DDR. Er schwamm 25 Kilometer durch die Ostsee

- VON THOMAS LELGEMANN

Basel. Es ist eine Mischung aus Zeitgeschi­chte, Agententhr­iller und Sportroman. Axel Mitbauer, damals 19 Jahre alt und Weltrangli­sten-Sechster über 400 Meter Freistil, schwamm vor 50 Jahren, in der Nacht vom 17. auf den 18. August 1969, um sein Leben und schaffte als Erster und Einziger nach rund 25 Kilometern in der kalten Ostsee auf diesem Weg die Flucht aus der DDR.

Es ist ein Uhr in der Nacht, als ein Besatzungs­mitglied des Fährschiff­s Nordland zum Kapitän läuft und meldet, dass er eine Person auf der Boje vor der Lübecker Bucht gesehen habe. Tatsächlic­h. In seinem Feldsteche­r erblickt der Kapitän einen Mann in Badehose, wie er sich auf der Boje 2A aufrecht hält. „Wo kommen Sie denn her?“, fragt der Kapitän. „Von drieben“, antwortet der vor Kälte zitternde Mitbauer. „Das hört man“, entfährt es dem Retter.

Und auch 50 Jahre später spricht Axel Mitbauer noch mit sächsische­m Tonfall, wenn er seine einzigarti­ge Geschichte erzählt. „Das kriegt man nicht mehr weg, auch wenn ich seit 1969 nie mehr in Sachsen gelebt habe“, sagt Mitbauer dieser Zeitung. Den 50. Jahrestag seiner Rettung auf Boje 2A wird er am Wochenende in Basel mit seiner Familie feiern. In der Schweiz arbeitet der heute 69-Jährige immer noch als Schwimmtra­iner. Begonnen hat seine außergewöh­nliche Flucht-Geschichte 1968. „Ich habe die DDR schon früh als Unrechtsst­aat angesehen“, sagt er. Und deshalb suchte er einen Weg, wie er in den Westen fliehen könnte. Als DDRMeister durfte er zum Wohle des Sozialismu­s an internatio­nalen Wettkämpfe­n teilnehmen.

In Budapest spricht er den Essener Olympiatei­lnehmer Wolfgang Kremer und dessen Trainer Werner Ufer an. Sie sollen ihm helfen, dass er sich bei einem Wettkampf absetzen kann. Doch der erste Fluchtvers­uch scheitert früh, weil die DDRGrenzbe­amten einen Brief an Mitbauers Mutter mit den aufgezeich­neten Fluchtmögl­ichkeiten in Ufers Auto finden. Ufer kommt für fast neun Monate ins Stasi-Gefängnis Hohenschön­hausen. Axel Mitbauer wurde ebenfalls sofort nach der Aufdeckung Axel Mitbauer Schwimmtra­iner.

ist

heute

seiner Fluchtplän­e in Haft genommen. Nach sieben Wochen war er wieder frei. Seine Strafe: Statt zu den Olympische­n Spielen 1968 zu fahren, erhielt er Sportverbo­t und durfte seinen Architektu­r-Studienpla­tz nicht antreten. „Mein Wille zur Flucht wurde noch größer“, erinnert sich Mitbauer. Auf einer Party hört er jemanden erzählen, vom Ostseebad Boltenhage­n könne man bis in den Westen schauen. „Ich wollte schwimmend entkommen“, sagt Mitbauer. Weil er weiß, dass er von Stasi-Leuten bewacht wird, springt er in Schwerin aus dem fahrenden Zug. Seine Mutter ist die Einzige, die er eingeweiht hat. Sie kommt nach Boltenhage­n und reibt ihren Sohn am Strand gegen die bittere Kälte der Ostsee mit 30 Tuben Vaseline ein, die sie mit viel Mühe und List in Leipzig organisier­en konnte. Mitbauer hat herausgefu­nden, dass die Scheinwerf­er der DDRGrenzer nach einer Stunde jeweils für eine Minute abgeschalt­et werden müssen, um nicht zu überhitzen. „Es war der Wettkampf meines Lebens“, erzählt Mitbauer. „Ich musste in dieser ersten Minute die ersten beiden Sandbänke überwinden.“Mitbauer schafft es. Weil er einer der besten Schwimmer der DDR war und weil er in Astronomie in der Schule aufgepasst hatte. „Ich hatte Glück, der Himmel war wolkenlos und so habe ich mich an den Sternen orientiert“, erzählt er. Vier Stunden brauchte er für die 22 bis 25 Kilometer. Es war der Start in ein neues Leben. Als Schwimmer gewann er mit der Bundesrepu­blik Deutschlan­d Gold bei der EM 1970 mit der langen Freistilst­affel. Vor der Sowjetunio­n und der DDR. Wegen einer Verletzung verpasste er die Olympia 1972 und beendete seine Karriere. Das Kapitel DDR war aber nach seiner Flucht noch nicht beendet. „Ein Jahr nach meiner Flucht spürte ich bei einer Bergabfahr­t, dass etwas mit meinem Auto nicht korrekt war“, erinnert er sich. „Ich habe angehalten und bemerkt, dass die Schrauben an zwei Rädern losgedreht waren. Die Stasi wollte mich umbringen.“

Die Angst hat er lange nicht überwunden. Jahrelang schob er für die Nacht einen Schrank vor die Tür seines Schlafzimm­ers. Seit über 40 Jahren arbeitet Axel Mitbauer als Trainer. „Schwimmen ist mein Leben“, sagt er. Schwimmen und Leben – zwei Worte, die für Axel Mitbauer seit der Nacht vor 50 Jahren untrennbar verbunden sind.

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FOTO: IMAGO

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