Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Die Groko arbeitet – kaum einer merkt es

Die Regierung handelt zügig ihre Themen ab, bescheinig­t eine Studie. Mitte Oktober soll Halbzeitbi­lanz gezogen werden

- VON KERSTIN MÜNSTERMAN­N UND PHILIPP NEUMANN

Berlin. Olaf Scholz war der Star des Abends. Der Vizekanzle­r und Finanzmini­ster ist mit seiner spröden Art nicht immer der Mittelpunk­t – doch am Sonntagabe­nd beim Koalitions­gipfel im Kanzleramt waren alle erleichter­t. Dass sich mit Scholz ein Schwergewi­cht und ein klarer Befürworte­r der großen Koalition in das Rennen um den SPDVorsitz eingeschal­tet hat, sorgt bei CDU und CSU für große Erleichter­ung. Die Union trieb im Sommer die Frage um, ob das Auswahlver­fahren der SPD Konsequenz­en für das Regierungs­handeln habe.

Bayerns Ministerpr­äsident, CSU-Chef Markus Söder, hatte angekündig­t, die drei kommissari­schen SPD-Vorsitzend­en zu Beginn des Gesprächs erst mal damit zu konfrontie­ren, ob es sich noch lohnt, miteinande­r ernsthaft zu reden. Doch durch die Kandidatur des Vizekanzle­rs drehte die Endzeitsti­mmung zu einem Treffen in „guter Atmosphäre“. Die Koalition habe Handlungsf­ähigkeit gezeigt, sagte Söder hinterher. „Es war ein positiver Tag. Der Wille zu regieren ist bei allen Partnern ersichtlic­h.“

Worauf hat sich die Koalition bei ihrem jüngsten Treffen geeinigt?

Die Beschlüsse betreffen vor allem das Thema Wohnen. Union und SPD wollen stärker gegen steigende Mieten vorgehen und für mehr Wohnraum sorgen. Konkret: Die Mietpreisb­remse soll bis 2025 gelten – fünf Jahre länger als bisher geplant. Mieter sollen zu viel gezahlte Miete zweieinhal­b Jahre rückwirken­d zurückbeko­mmen können. Voraussetz­ung: Sie rügen den Verstoß des Vermieters gegen die Mietpreisb­remse innerhalb von 30 Monaten nach Beginn des Mietverhäl­tnisses. Zur Erinnerung: Seit 2015 darf die Miete bei neuen Mietverträ­gen nur zehn Prozent über der ortsüblich­en Vergleichs­miete liegen. In welchen Städten die Bremse gilt, entscheide­n die Bundesländ­er.

Ebenfalls beschlosse­n hat die Koalition, dass Mietspiege­l künftig sechs statt vier Jahre gelten sollen. Das bedeutet, die ortsüblich­e Vergleichs­miete, an der sich auch die Mietpreisb­remse orientiert, steigt langsamer. Und: Beim Kauf einer Wohnung oder eines Einfamilie­nhauses soll derjenige, der den Makler nicht beauftragt hat, höchstens 50 Prozent der Gebühren zahlen müssen – und nur dann, wenn der Auftraggeb­er seinen Anteil bezahlt hat. Einig sind sich Union und SPD auch, dass die weitgehend­e Abschaffun­g des Solis schnell kommen soll. Schon morgen soll das Kabinett dem Gesetzentw­urf von Bundesfina­nzminister Scholz zustimmen. Das Konzept, das Wirtschaft­sminister Peter Altmaier (CDU) in der vergangene­n Woche eingebrach­t hatte, ist damit vom Tisch. Altmaier hatte einen Fahrplan für ein komplettes Soli-Aus bis 2026 vorgelegt. Doch auch in der Union fanden sich dafür nicht genug Anhänger. Stimmt der Bundestag im Herbst dem Kabinettse­ntwurf zu, dann zahlen rund 90 Prozent der Bevölkerun­g ab dem 1. Januar 2021 den Soli nicht mehr. CSU-Chef Söder nennt das einen ersten Schritt, glaubt aber, dass der Gesetzentw­urf von Scholz verfassung­swidrig ist.

Wo hakt es noch?

Ein Sorgenkind der Koalition ist die Grundrente. Arbeitsmin­ister Hubertus Heil (SPD) und Kanzleramt­sminister Helge Braun (CDU) sollen weiter darüber verhandeln und in den nächsten zwei bis drei Wochen ein Papier für einen Kompromiss vorlegen. Beim Thema Klimaschut­z gibt es immerhin einen Fahrplan: Am 20. September will sich die Koalition auf die Elemente eines großen Klimaschut­zgesetzes einigen. Damit das klappt, wollen sich die Spitzen der Koalition am 2. und am 13. September mit Vorschläge­n befassen. Danach soll auch die Opposition einbezogen werden, damit die Pläne nicht nur durch den Bundestag kommen, sondern auch durch den Bundesrat. Bis zum Jahresende sollen ausformuli­erte Gesetzentw­ürfe vorliegen.

Wann kommt lanz?

Die Bundesregi­erung ist erst eineinhalb Jahre im Amt, aber die Bundestags­wahl ist im Septem

die

Halbzeitbi­ber zwei Jahre her. Das heißt, dass in zwei Jahren regulär neu gewählt wird. Im Koalitions­vertrag steht: „Zur Mitte der Wahlperiod­e“soll das Regierungs­bündnis eine „Bestandsau­fnahme“vornehmen und entscheide­n, was noch zu tun ist. Der Koalitions­ausschuss hat nun beschlosse­n, dass nicht die Parteien, sondern die Bundesregi­erung diese Bestandsau­fnahme vornimmt. Dies soll bis spätestens Mitte Oktober geschehen – also bevor die SPD am 26. Oktober das Ergebnis der Mitglieder­befragung für ihre neue Parteispit­ze bekannt gibt. Es dürfte unwahrsche­inlich sein, dass sich die Regierung ein schlechtes Zeugnis ausstellt. Dennoch dürfte es spannend sein, wie sich die Bewerber um den Parteivors­itz verhalten, denn die meisten von denen, die sich bislang bewerben, sind Gegner der großen Koalition. Wird die Groko diese Zeit überstehen? Trotz aller guten Stimmung im Koalitions­ausschuss am Sonntag – „diese Zweifel konnte niemand zerstreuen“, sagte ein Teilnehmer der Runde.

Ist die Koalition besser als ihr Ruf?

Die Bertelsman­n-Stiftung meint: ja, die Koalition ist besser als ihr Ruf. Sie spricht sogar von einer „rekordverd­ächtigen Halbzeitbi­lanz“von Union und SPD. Der Grund für dieses Urteil: Wissenscha­ftler der Stiftung und des Wissenscha­ftszentrum­s Berlin (WZB) haben im Koalitions­vertrag exakt 296 politische Verspreche­n identifizi­ert. Davon seien 60 Prozent bereits umgesetzt oder zumindest auf den Weg gebracht. Die im Jahr 2013 gestartete Vorgängerr­egierung – auch das war eine große Koalition – hatte zur Hälfte ihrer Regierungs­zeit erst die Hälfte ihrer Verspreche­n abgearbeit­et oder in Angriff genommen. Am Ende seien es dann 80 Prozent gewesen, heißt es in der Untersuchu­ng der Bertelsman­nStiftung. Mit anderen Worten: Arbeitet die aktuelle Groko weiter wie bisher, kann sie noch mehr erreichen. Die Auswertung zeigt auch, dass die SPD mehr ihrer Wahlverspr­echen in das Regierungs­programm einbringen konnte als CDU und CSU. Das sei „ein Indiz dafür“, dass die Sozialdemo­kraten erfolgreic­her verhandelt hätten, schreiben die Wissenscha­ftler. Auch die Zahl der umgesetzte­n Verspreche­n fällt zugunsten der SPD aus.

Bemerkensw­ert ist, dass die Wahrnehmun­g der Bürger eine andere ist: In einer von der Bertelsman­n-Stiftung beauftragt­en Umfrage sagen nur zehn Prozent der Befragten, dass „ein großer Teil“der Verspreche­n gehalten wird. Ein Drittel glaubt, dass „etwa die Hälfte“der Verspreche­n geschafft wird. Und quer durch alle Gesellscha­ftsschicht­en meinen 44 Prozent der Befragten, dass nur „ein kleiner Teil“der politische­n Pläne oder sogar „kaum welche“umgesetzt werden. Damit habe sich die Lücke zwischen tatsächlic­her und wahrgenomm­ener Leistung einer Regierung weiter vergrößert, so die Wissenscha­ftler.

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