Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Republik im Theater
In seinem Buch „Weimar 1919“malt Jörg Sobiella ein Sittengemälde demokratischen Beginnens in antirevolutionärer Kontinuität
„Die Nationalversammlung sollte zu einer Schule republikanischer Demokratie werden, die sich ihre Lektionen selbst beibrachte.“
Jörg Sobiella in seinem Buch „Weimar 1919“
Weimar. Viel sprach 1919 gegen das politisch unsichere Berlin als Tagungsort dieser Nationalversammlung. Gesucht wurde nicht nur aus logistischen, vor allem aber aus symbolischen Gründen: „Eine Stadt in der Mitte des Reiches.“Das sollte, nach dem verheerenden Weltenbrand des großen Krieges, eine Abkehr von preußisch dominierter Politik sowie die deutsche Einheit signalisieren. Dass man nicht nach Frankfurt am Main oder Kassel, Bayreuth oder Nürnberg, Jena oder Eisenach ging, die im Gespräch waren oder sich in dieses brachten, sondern nach Weimar, lag: am Theater. Der Reichstagsdirektor fand, dem hiesigen Staatskommissar und künftigen Abgeordneten August Baudert (SPD) zufolge, „dass das Gebäude geradezu wie ausgesucht zu diesem Zwecke sei“. Hier wurde vor 100 Jahren, am 31. Juli 1919, mit 262 gegen 75 Stimmen eine Verfassung beschlossen, die mit dem in sich widersprüchlichen Satz startet: „Das Deutsche Reich ist eine Republik.“Und womöglich war sie, das kann sich Jörg Sobiella nicht verkneifen, ja eine „Theaterrepublik“. Immerhin, der Autor war unter anderem Theaterkritiker und Dramaturg, bevor er 1991 als ThüringenKorrespondent zum Sender MDR Kultur ging. Soeben 65 geworden, neigt sich dieser Lebensabschnitt dem Ende zu. Gleichsam als dessen Krönung, vielleicht auch als Zeichen des Übergangs in ein künftiges Dasein, legt er ein großes Drama in Prosaform vor, geboren aus einer Tragödie und Jahre später in eine ebensolche mündend, zwischendurch allerdings auch als Komödie oder gar Posse wirkend: „Weimar 1919 – Der lange Weg zur Demokratie“. Zwei Jahrzehnte lang spukte ihm ein solches Projekt im gebildeten Kopf herum. Nach langem Studium in Archiven und Bibliotheken, Nachlässen, Memoiren, Zeitungsberichten, entfaltet er vor uns, wovon er, im Zeitkontext, selbst schreibt: „Weimar – ein Schauspiel, wie es Deutschland noch nie gesehen hatte.“Aber ach! Ein Schauspiel nur? Keineswegs! „Dieses Buch“, verspricht Sobiella, „blickt in einer Nahaufnahme auf den offenen Anfang.“Das löst er auf insgesamt 600 Seiten ein. Diesem Anfang wohnt kein Zauber inne. „Der siebenmonatige politische Ausnahmealltag in Weimar“, bewältigt unter denkbar widrigsten politischen wie wirtschaftlichen Umständen, findet bei Sobiella vorzugsweise in den Mühen der Ebene statt. Der Autor will verstehen und Verständnis fördern. Er meidet also alle Überheblichkeit wissender Nachbetrachtung; nüchtern, scharfsinnig und respektvoll blickt er auf das, was er einmal das „Zeitgeistarsenal des frühen 20. Jahrhunderts“nennt.
Das betrifft ein Land, das auf Demokratie nicht vorbereitet war, und erst recht den Tagungsort: „Das Weimarer Bürgertum (. . .) neigte ohnehin völkisch nationalen Gedanken zu.“Das ist Sobiellas Kontext. „Weimar 1919“ist viel mehr als Regionalgeschichte, aber eben auch eine. Am Ende atmet die stockkonservative „Weimarische Zeitung“am 22. August auf, beklagt aber zugleich, Weimars Seele sei zerrissen worden: „Anstelle des angestammten Fürstenhauses machten sich im Schloss fremde Menschen breit, anstelle der hohen Kunst wogte im alten Hoftheater widerlicher Parteienkampf.“Am Theater erwarb sich Filmstar Lil Dagover erste Meriten. Sobiella zitiert ihre spöttische Erinnerung an 1917: „Die traditionsreiche Vergangenheit bestimmte den Rhythmus
der Stadt. Und wer sich der historischen Würde und literarischen Tradition voll bewusst war, die ihn täglich umschwebte, der konnte gar nicht anders: er ging nicht durch Weimar, sondern er ,schritt‘; er sprach nicht wie ein gewöhnlicher Mensch, er zitierte und rezitierte.“Darüber brach nun das Prosaische ein. Das Theater gilt dafür als ein Schnitt- und Scheidepunkt. Sein Saal wurde „zu einem verkleinerten Reichstagssaal umgestaltet“, es „ertönte ein Klingelzeichen wie zu Beginn einer Theatervorstellung“. Das Kabinett tagte während der Sitzungen im Ankleideraum für das Ballett, der Ausschuss für den Versailler Friedensvertrag im Ballettsaal, die Fraktion der DNVP in einer Künstlergarderobe, die Regierung beriet sich in Bühnenbild-Teilen von „Lohengrin“.
Ironischerweise blieben die anfangs 36 Frauen unter den Abgeordneten, ein Novum, hier gleichsam am angestammten Platz. Denn „außerhalb dieser privilegierten Schallräume“, schreibt Sobiella über die Theater-, Konzert- und Opernhäuser, „waren lautstarke Frauen verpönt“.
Das Buch malt ein Sittenbild der Widersprüche. Die Nationalversammlung tagte in einem elf Jahre zuvor eröffneten Neubau, den Wilhelm Ernst damals mit viel privatem Geld unterstützte. Der hatte nun abdanken müssen. Aber in Weimar „blieb (fast) alles beim Alten, nur ohne den Großherzog“, so Sobiella.
Die „Neutaufe“durch Intendant Ernst Hardt am Tag der Wahl zur Nationalversammlung war „die ebenso simple wie kongeniale Erfindung eines Markennamens“. Das Konzept „Deutsches Nationaltheater“, mit Klassikern zur Erbauung und Erhebung, entstand im Advent 1918, als von Nationalversammlung in Weimar noch keine Rede sein konnte. Die errichtete ein neues Deutschland in „antirevolutionärer Kontinuität“, angefangen vom Zentrumspolitiker Constanin Fehrenbach als altem und neuem Parlamentspräsidenten. Der gerade noch „kaisertreue“Sozialdemokrat Friedrich Ebert machte sich als Reichspräsident zum Ersatzkaiser, sein Amt „sprach ihm auch Befugnisse des Monarchen zu“. Insofern wurde aus dem Reich eine Republik, aber eben auch eine „Weimarer Replik“; so beschreibt Sobiella den Sitzungssaal, ihn mit dem Berliner Original vergleichend. Im Großen wie im Kleinen, die einander spiegelten und irgendwie auch bedingten, breitet das Buch sozusagen Menschliches, Allzumenschliches vor uns aus: als Bedingung und Pferdefuß der Demokratie. „Die Nationalversammlung“, so der Autor, „sollte zu einer Schule republikanischer Demokratie werden, die sich ihre Lektionen selbst beibrachte.“Ihre Mitglieder waren aber nun einmal auch „Gewählte mit der Neigung, sich auch für Erwählte zu halten: eine déformation professionelle, die zur psychischen Grunddisposition aller Politiker gehört.“Zudem fühlten sich viele durch den Parlamentarismus deformiert: „Es ist geistestötend, sich als Parlamentarier durchs Leben schlagen zu müssen“, schrieb Erich Koch-Weser von der linksliberalen DDP, der gerade noch Oberbürgermeister in Kassel war. „Man hat immer etwas zu tun, tut aber selten etwas.“Sobiella resümiert: „Die Leidenschaft der Abgeordneten für den eigentlichen Zweck der Nationalversammlung, die Ausarbeitung des Grundgesetzes, hielt sich augenscheinlich in Grenzen.“
Grenzenlos erscheint die Leidenschaft für Ablenkung, in den Kneipen, wo sich am Abend Auswärtige und Einheimische bald so oder so näher kamen, auch bei Tanzveranstaltungen, bei Prostituierten gewiss, in Liebschaften und „Parlamentsehen“.
Vor dieser Kulisse, die die damals übliche „Tendenzpresse“täglich bunt ausmalte, rang man um Fassung und Verfassung sowie um den Versailler Freidensvertrag, der durchaus „kein Todesurteil“für Deutschland bedeutete, wie Sobiella darlegt. „Die wahren Patrioten“nahmen ihn an.
Dieses Buch selbst ist eine Schule republikanischer Demokratie. Abgesehen von bildungshubernden Formulierungen, die die damalige Diktion meist unironisch aufzunehmen scheinen, lässt es vor unseren Augen ein „Haus der Weimarer Republik“erstehen, mit festem Fundament, doch stets einsturzgefährdet. Ob jenes Haus, das übermorgen in Weimar tatsächlich eröffnet wird, da mithalten kann, muss sich erst zeigen.