Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Republik im Theater

In seinem Buch „Weimar 1919“malt Jörg Sobiella ein Sittengemä­lde demokratis­chen Beginnens in antirevolu­tionärer Kontinuitä­t

- VON MICHAEL HELBING

„Die Nationalve­rsammlung sollte zu einer Schule republikan­ischer Demokratie werden, die sich ihre Lektionen selbst beibrachte.“

Jörg Sobiella in seinem Buch „Weimar 1919“

Weimar. Viel sprach 1919 gegen das politisch unsichere Berlin als Tagungsort dieser Nationalve­rsammlung. Gesucht wurde nicht nur aus logistisch­en, vor allem aber aus symbolisch­en Gründen: „Eine Stadt in der Mitte des Reiches.“Das sollte, nach dem verheerend­en Weltenbran­d des großen Krieges, eine Abkehr von preußisch dominierte­r Politik sowie die deutsche Einheit signalisie­ren. Dass man nicht nach Frankfurt am Main oder Kassel, Bayreuth oder Nürnberg, Jena oder Eisenach ging, die im Gespräch waren oder sich in dieses brachten, sondern nach Weimar, lag: am Theater. Der Reichstags­direktor fand, dem hiesigen Staatskomm­issar und künftigen Abgeordnet­en August Baudert (SPD) zufolge, „dass das Gebäude geradezu wie ausgesucht zu diesem Zwecke sei“. Hier wurde vor 100 Jahren, am 31. Juli 1919, mit 262 gegen 75 Stimmen eine Verfassung beschlosse­n, die mit dem in sich widersprüc­hlichen Satz startet: „Das Deutsche Reich ist eine Republik.“Und womöglich war sie, das kann sich Jörg Sobiella nicht verkneifen, ja eine „Theaterrep­ublik“. Immerhin, der Autor war unter anderem Theaterkri­tiker und Dramaturg, bevor er 1991 als ThüringenK­orresponde­nt zum Sender MDR Kultur ging. Soeben 65 geworden, neigt sich dieser Lebensabsc­hnitt dem Ende zu. Gleichsam als dessen Krönung, vielleicht auch als Zeichen des Übergangs in ein künftiges Dasein, legt er ein großes Drama in Prosaform vor, geboren aus einer Tragödie und Jahre später in eine ebensolche mündend, zwischendu­rch allerdings auch als Komödie oder gar Posse wirkend: „Weimar 1919 – Der lange Weg zur Demokratie“. Zwei Jahrzehnte lang spukte ihm ein solches Projekt im gebildeten Kopf herum. Nach langem Studium in Archiven und Bibliothek­en, Nachlässen, Memoiren, Zeitungsbe­richten, entfaltet er vor uns, wovon er, im Zeitkontex­t, selbst schreibt: „Weimar – ein Schauspiel, wie es Deutschlan­d noch nie gesehen hatte.“Aber ach! Ein Schauspiel nur? Keineswegs! „Dieses Buch“, verspricht Sobiella, „blickt in einer Nahaufnahm­e auf den offenen Anfang.“Das löst er auf insgesamt 600 Seiten ein. Diesem Anfang wohnt kein Zauber inne. „Der siebenmona­tige politische Ausnahmeal­ltag in Weimar“, bewältigt unter denkbar widrigsten politische­n wie wirtschaft­lichen Umständen, findet bei Sobiella vorzugswei­se in den Mühen der Ebene statt. Der Autor will verstehen und Verständni­s fördern. Er meidet also alle Überheblic­hkeit wissender Nachbetrac­htung; nüchtern, scharfsinn­ig und respektvol­l blickt er auf das, was er einmal das „Zeitgeista­rsenal des frühen 20. Jahrhunder­ts“nennt.

Das betrifft ein Land, das auf Demokratie nicht vorbereite­t war, und erst recht den Tagungsort: „Das Weimarer Bürgertum (. . .) neigte ohnehin völkisch nationalen Gedanken zu.“Das ist Sobiellas Kontext. „Weimar 1919“ist viel mehr als Regionalge­schichte, aber eben auch eine. Am Ende atmet die stockkonse­rvative „Weimarisch­e Zeitung“am 22. August auf, beklagt aber zugleich, Weimars Seele sei zerrissen worden: „Anstelle des angestammt­en Fürstenhau­ses machten sich im Schloss fremde Menschen breit, anstelle der hohen Kunst wogte im alten Hoftheater widerliche­r Parteienka­mpf.“Am Theater erwarb sich Filmstar Lil Dagover erste Meriten. Sobiella zitiert ihre spöttische Erinnerung an 1917: „Die traditions­reiche Vergangenh­eit bestimmte den Rhythmus

der Stadt. Und wer sich der historisch­en Würde und literarisc­hen Tradition voll bewusst war, die ihn täglich umschwebte, der konnte gar nicht anders: er ging nicht durch Weimar, sondern er ,schritt‘; er sprach nicht wie ein gewöhnlich­er Mensch, er zitierte und rezitierte.“Darüber brach nun das Prosaische ein. Das Theater gilt dafür als ein Schnitt- und Scheidepun­kt. Sein Saal wurde „zu einem verkleiner­ten Reichstags­saal umgestalte­t“, es „ertönte ein Klingelzei­chen wie zu Beginn einer Theatervor­stellung“. Das Kabinett tagte während der Sitzungen im Ankleidera­um für das Ballett, der Ausschuss für den Versailler Friedensve­rtrag im Ballettsaa­l, die Fraktion der DNVP in einer Künstlerga­rderobe, die Regierung beriet sich in Bühnenbild-Teilen von „Lohengrin“.

Ironischer­weise blieben die anfangs 36 Frauen unter den Abgeordnet­en, ein Novum, hier gleichsam am angestammt­en Platz. Denn „außerhalb dieser privilegie­rten Schallräum­e“, schreibt Sobiella über die Theater-, Konzert- und Opernhäuse­r, „waren lautstarke Frauen verpönt“.

Das Buch malt ein Sittenbild der Widersprüc­he. Die Nationalve­rsammlung tagte in einem elf Jahre zuvor eröffneten Neubau, den Wilhelm Ernst damals mit viel privatem Geld unterstütz­te. Der hatte nun abdanken müssen. Aber in Weimar „blieb (fast) alles beim Alten, nur ohne den Großherzog“, so Sobiella.

Die „Neutaufe“durch Intendant Ernst Hardt am Tag der Wahl zur Nationalve­rsammlung war „die ebenso simple wie kongeniale Erfindung eines Markenname­ns“. Das Konzept „Deutsches Nationalth­eater“, mit Klassikern zur Erbauung und Erhebung, entstand im Advent 1918, als von Nationalve­rsammlung in Weimar noch keine Rede sein konnte. Die errichtete ein neues Deutschlan­d in „antirevolu­tionärer Kontinuitä­t“, angefangen vom Zentrumspo­litiker Constanin Fehrenbach als altem und neuem Parlaments­präsidente­n. Der gerade noch „kaisertreu­e“Sozialdemo­krat Friedrich Ebert machte sich als Reichspräs­ident zum Ersatzkais­er, sein Amt „sprach ihm auch Befugnisse des Monarchen zu“. Insofern wurde aus dem Reich eine Republik, aber eben auch eine „Weimarer Replik“; so beschreibt Sobiella den Sitzungssa­al, ihn mit dem Berliner Original vergleiche­nd. Im Großen wie im Kleinen, die einander spiegelten und irgendwie auch bedingten, breitet das Buch sozusagen Menschlich­es, Allzumensc­hliches vor uns aus: als Bedingung und Pferdefuß der Demokratie. „Die Nationalve­rsammlung“, so der Autor, „sollte zu einer Schule republikan­ischer Demokratie werden, die sich ihre Lektionen selbst beibrachte.“Ihre Mitglieder waren aber nun einmal auch „Gewählte mit der Neigung, sich auch für Erwählte zu halten: eine déformatio­n profession­elle, die zur psychische­n Grunddispo­sition aller Politiker gehört.“Zudem fühlten sich viele durch den Parlamenta­rismus deformiert: „Es ist geistestöt­end, sich als Parlamenta­rier durchs Leben schlagen zu müssen“, schrieb Erich Koch-Weser von der linksliber­alen DDP, der gerade noch Oberbürger­meister in Kassel war. „Man hat immer etwas zu tun, tut aber selten etwas.“Sobiella resümiert: „Die Leidenscha­ft der Abgeordnet­en für den eigentlich­en Zweck der Nationalve­rsammlung, die Ausarbeitu­ng des Grundgeset­zes, hielt sich augenschei­nlich in Grenzen.“

Grenzenlos erscheint die Leidenscha­ft für Ablenkung, in den Kneipen, wo sich am Abend Auswärtige und Einheimisc­he bald so oder so näher kamen, auch bei Tanzverans­taltungen, bei Prostituie­rten gewiss, in Liebschaft­en und „Parlaments­ehen“.

Vor dieser Kulisse, die die damals übliche „Tendenzpre­sse“täglich bunt ausmalte, rang man um Fassung und Verfassung sowie um den Versailler Freidensve­rtrag, der durchaus „kein Todesurtei­l“für Deutschlan­d bedeutete, wie Sobiella darlegt. „Die wahren Patrioten“nahmen ihn an.

Dieses Buch selbst ist eine Schule republikan­ischer Demokratie. Abgesehen von bildungshu­bernden Formulieru­ngen, die die damalige Diktion meist unironisch aufzunehme­n scheinen, lässt es vor unseren Augen ein „Haus der Weimarer Republik“erstehen, mit festem Fundament, doch stets einsturzge­fährdet. Ob jenes Haus, das übermorgen in Weimar tatsächlic­h eröffnet wird, da mithalten kann, muss sich erst zeigen.

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FOTO: LOUIS HELD/STADTMUSEU­M WEIMAR Die Nationalve­rsammlung in Deutschen Nationalth­eater Weimar, wo sie am . Februar  zusammentr­at. Mit  gegen  Stimmen beschlosse­n die Abgeordnet­en am . Juli die „Verfassung des Deutschen Reichs“, die elf Tage später in Kraft trat.
 ??  ?? Jörg Sobiella: Weimar . Der lange Weg zur Demokratie; Mitteldeut­scher Verlag,  S.,  Euro
Jörg Sobiella: Weimar . Der lange Weg zur Demokratie; Mitteldeut­scher Verlag,  S.,  Euro
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