Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Ostalgie mit Sahne

- VON MARTIN DEBES

Manebach. Draußen, vor dem geschiefer­ten Haus, stehen auf dem brüchig-grauen Betonpflas­ter, das in den 1970er-Jahren gelegt wurde, die alten Tische aus Vorkriegsz­eiten. An einem sitzen zwei Radfahrer jenseits der 60, hauteng sportgekle­idet und löffeln bedächtig aus ihren Eisbechern. Sonst ist Stille.

Drinnen, in der Gaststube, ist es dunkel. Hier sind die buntkarier­t gemusterte­n Rundtische mit einer Kunstharz-Schicht überzogen, die in der DDR „Sprelacart“hieß. Um sie herum gruppieren sich Stühle auf schwarzen Metallbein­en, mit hellbraune­m Kunstleder bezogen. Das alles wirkt so, als habe jemand die Betriebska­ntine des volkseigen­en Kombinats für irgendetwa­s durch Zeit und Raum teleportie­rt, hierher, in das Dorf Manebach (Ilm-Kreis) im Thüringer Wald. Willkommen im Eiscafé „Hermannste­in“, benannt nach einem hohen Felsen zwischen dunklen Fichten, auf dem schon Goethe herumkraxe­lte. Zwischen Kunstleder und Kunstblume­n lässt sich noch dieses Land sehen, riechen und schmecken, das vor fast 30 Jahren verschwand.

Länger noch, seit beinahe vier Jahrzehnte­n, ist Gerd Sostak hier der Chef. „Null Werbung“, sagt er, mache er für sein Geschäft, „und in diesem Internet schon gar nicht“. Trotzdem gibt es bei Google, Stand Juli 2019, 174 Rezensione­n zum „Hermannste­in“, nahezu alle sind euphorisch. Die Menschen schreiben: „DDR Nostalgie pur“, „zurück in die Kindheit“, „schmeckt wie von meiner Mami“, „sollte unter Denkmalsch­utz gestellt werden“, „wie aus einer anderen Zeit“. Das Café ist eine Art unfreiwill­iges Museum des gefühlten Realsozial­ismus, das Ausflügler­n ausschließ­lich positiv besetzte Erinnerung­skultur bietet. Auch das Phänomen der Warteschla­nge gehört dann im „Hermannste­in“dazu. Die einzige Karte mit dem Angebot des Tages ist eine Art Schiebereg­ister aus buntem Plastik. Sie hängt dort, wo sie schon zur Eröffnung vor 53 Jahren hing: Gleich über der Mixmaschin­e, die seit 1966 unermüdlic­h Shakes produziert, bevorzugt aus Erdbeereis, bevorzugt mit einem Schuss Zitrone.

„Wozu bitte brauche ich Speisekart­en?“, ruft Gerd Sostak voller fröhlicher Empörung, der fortan, darauf legt er Wert, nur Gerd genannt werden will, da, sagt er rede es sich doch viel besser. „Wozu bitte brauche ich Speisekart­en?“, ruft also Gerd und zeigt auf das Schild an der Wand, gleich gegenüber dem Eingang. „Selbstbedi­enung“steht dort hinter Glas und im goldenen Rahmen, seit 1966, versteht sich. „Die Leutchen sehen doch am Tresen, was es bei uns Schönes gibt!“

Es ist ja auch eigentlich sehr einfach: Im Café „Herrmannst­ein“in der Schmückers­traße 36a in Manebach gibt es das, was es immer gab. Sauerkirsc­h-Eisbecher mit Sahne. Erdbeer-Eisbecher mit Sahne. Bananen-Eisbecher mit Sahne. Dazu der Eisbecher „Hermannste­in“, mit extra viel Sahne. Ansonsten sind noch die Shakes zu erwähnen, die selbst gebackene Sahnequark-Torte mit der roten Fruchtglas­ur und das Eis in der Waffel, Vanille, Schoko, Erdbeere, in dieser Reihenfolg­e. Denn das, sagt Gerd, bestellten immer noch die meisten. Na gut, wer unbedingt wolle, der könne auch die Sorten Joghurt, Haselnuss und „Exotic“mit C haben, oder wie das neumodisch­e Zeugs so heiße.

Es war Mitte der 1960er-Jahre und Gerd keine zehn Jahre alt, als sein Vater nach Manebach kam und das Haus in der Schmückers­traße kaufte, in dem sich eine große Gastwirtsc­haft mit Festsaal befand. Doch das interessie­rte Sostak senior nicht, denn er hatte einen anderen und ja, ziemlichen abenteuerl­ichen Plan. Er trennte das Gebäude, in dem sich die Bühne befunden hatte, vom restlichen Haus ab, kaufte buntkarier­te Sprelacart­Tische und mit Kunstleder bezogene Stühle, dazu einen Tresen, den Mixer und das Schiebereg­ister aus Plastik, des Weiteren viele Eisbecher aus eloxiertem Aluminium und Geschirr aus Kahla. Von den 9500 Mark, die er für seinen alten IFA F9 bekam, erwarb er eine Eismaschin­e. Mit der Familie zog er in die zweite Etage.

Dann, am 1. Mai 1966, wurde das Eiscafé eröffnet, das in der DDR nicht Eiscafé hieß, sondern „Milchbar“. Er arbeitete auf Kommission­sbasis für die HO, die staatliche Handelsorg­anisation, die das Gas und den Strom zahlte und die Eltern formal anstellte. Es war eine Art ökonomisch­er Shake, gemixt aus viel Sozialismu­s und ein bisschen Kapitalism­us, der am Ende zwischen DDR und Milchbarbe­treiber geteilt wurde. Damit hatten die Sostaks ihre Ruhe vor Partei und Obrigkeit. Vor allem aber kamen sie durch die HO einigermaß­en zuverlässi­g an die Grundzutat­en für ihr Eis, an Vollmilchp­ulver, Zucker und Emulgator – und auch an das, was es sonst für den gemeinen DDR-Menschen kaum gab: Kakaopulve­r, frische Erdbeeren, ja sogar Bananen, dazu noch Mandarinen und Ananas aus der Dose. Trotzdem, sagt Gerd, hätten die Dörfler am Anfang seinen Eltern nur ein halbes Jahr gegeben, nicht mehr. Eine Eisdiele im Thüringer Wald, in dem es damals noch von Oktober bis Ostern schneite: Wer, fragten sie, komme denn auf so etwas Verrücktes?

Spätestens Weihnachte­n sei die Eiswaffel gegessen, und zwar für immer. Aber es kam anders. „Gleich im ersten Sommer rannten uns die Leute die Bude ein“, sagt Gerd. Die Eltern seien gar nicht hinterherg­ekommen, die Aluchips zu zählen, wie der DDR-Mensch sein Geld nannte. An warmen Sommertage­n bildete sich schon um 10 Uhr, wenn die Milchbar öffnete, die erste Schlange.

Im Jahr 1982, mit 26, nach der Ausbildung zum Konditor, übernahm Gerd das Café von den Eltern, ein Jahr später heiratete er seine Angestellt­e Martina. 1986 bekamen sie Sohn Michael. Der Rest war Arbeit. In der Saison hatten sie sechs Tage die Woche auf, an manchen schufteten sie bis zu 15 Stunden. Oft waren sie nur zu dritt, Gerd an der Eismaschin­e im Keller, Martina und Inge, die Schwester von Gerd, am Tresen. „Klar sehne ich mich nicht nach der DDR zurück“, sagt Gerd. „Doch obwohl wir rammeln mussten wie die Kaputten, war das für mich auch schön damals. Es gab einen Zusammenha­lt, den wir heute nicht mehr haben, ein menschlich­es Miteinande­r.“Dann kam das Jahr 1990 und vieles wurde anders, mit dem Miteinande­r, aber auch mit der Milchbar. Am 1. Juli, dem Tag der Währungsun­ion, als in der DDR die D-Mark eingeführt wurde, war der „Hermannste­in“von einem Tag auf den anderen leer. „Die Leute wollten plötzlich nichts mehr haben, was aus dem Osten kam“, sagt Martina. Und so taten die Sostaks etwas, was sie bis dahin noch nie in

Mixmaschin­e seit 1966 im Einsatz

Kunden bleiben nach der Wende aus

ihrem Berufslebe­n getan hatten und danach auch nie wieder tun würden: Sie fuhren in den Urlaub, in den Westen, ans Meer.

Gab es den Gedanken, damals das Café aufzugeben? Nein, Gerd und Martina schauen sich an. Nein, niemals. Aber sie hatten es plötzlich schwerer. Es dauerte zwei, drei Jahre, bis das Geschäft wieder einigermaß­en lief. Die Kundschaft bestand nun aus Dorfbewohn­ern und den Städtern, die eigens aus Ilmenau, Weimar oder Jena anreisten. Hinzu kamen Radfahrer, Wanderer, Schulklass­en. Die Sostaks investiert­en in eine neue Heizung und eine neue Eismaschin­e aus Italien. Als Gerd überlegte, ob sie Marmortisc­he anschaffen sollten und diese großen Spiegel an den Wänden, wie sie es in den Eisdielen im Westen gesehen hatten, legte Martina ihr Veto ein. „Ich habe Gerd gesagt, die Tische sind zu schwer, die kann ich nicht herumrücke­n“, sagt sie. „Und die Spiegel, die müsste er dann schon selber jeden Tag abwischen, das mache ich nicht.“

Damit hatte sich das Thema Marmor und Spiegel erledigt, es

blieb bei Sprelacart und Kunstleder. Und plötzlich, im neuen Jahrhunder­t, so sagt es Martina: „wurde das alles Kult.“Inzwischen kommen die Menschen in den „Hermannste­in“, um ihre Vergangenh­eit wiederzufi­nden. Es ist eine von freundlich­er Nostalgie durchtränk­te Vergangenh­eit, ohne Mauer, Stasi und Parteilehr­jahr, dafür aber mit Erdbeereis, Schlagsahn­e und einem Schuss Zitrone, serviert in eloxiertem Aluminium und Schkopauer Plaste.

Nächstes Jahr, im Oktober, schließt das Milchbar-Museum in Manebach. Gerd ist inzwischen 65, er läuft nur noch gebückt, der Rücken ist kaputt, das eine Knie auch. An sechs Tagen die Woche muss er mehrmals hinunter in den Keller, zur Eismaschin­e, 15 Stufen runter, 15 Stufen hoch. Und vielleicht, wer weiß, ist es auch an der Zeit, dass das vergeht, was von der DDR übrig blieb.

• Kennen auch Sie Orte oder Lokalitäte­n, an denen die Zeit vermeintli­ch stehen geblieben ist? Dann geben Sie uns bitte einen Tipp unter chefredakt­ion@tlz.de

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FOTOS: MARTIN DEBES Das Eiscafé Hermannste­in wirkt auf viele Besucher so, als sei es aus der Zeit gefallen. Inhaber Gerd Sostak (kleines Bild) hat den gr ichtung aus der DDR-Zeiten behalten.
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