Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Ostalgie mit Sahne
Manebach. Draußen, vor dem geschieferten Haus, stehen auf dem brüchig-grauen Betonpflaster, das in den 1970er-Jahren gelegt wurde, die alten Tische aus Vorkriegszeiten. An einem sitzen zwei Radfahrer jenseits der 60, hauteng sportgekleidet und löffeln bedächtig aus ihren Eisbechern. Sonst ist Stille.
Drinnen, in der Gaststube, ist es dunkel. Hier sind die buntkariert gemusterten Rundtische mit einer Kunstharz-Schicht überzogen, die in der DDR „Sprelacart“hieß. Um sie herum gruppieren sich Stühle auf schwarzen Metallbeinen, mit hellbraunem Kunstleder bezogen. Das alles wirkt so, als habe jemand die Betriebskantine des volkseigenen Kombinats für irgendetwas durch Zeit und Raum teleportiert, hierher, in das Dorf Manebach (Ilm-Kreis) im Thüringer Wald. Willkommen im Eiscafé „Hermannstein“, benannt nach einem hohen Felsen zwischen dunklen Fichten, auf dem schon Goethe herumkraxelte. Zwischen Kunstleder und Kunstblumen lässt sich noch dieses Land sehen, riechen und schmecken, das vor fast 30 Jahren verschwand.
Länger noch, seit beinahe vier Jahrzehnten, ist Gerd Sostak hier der Chef. „Null Werbung“, sagt er, mache er für sein Geschäft, „und in diesem Internet schon gar nicht“. Trotzdem gibt es bei Google, Stand Juli 2019, 174 Rezensionen zum „Hermannstein“, nahezu alle sind euphorisch. Die Menschen schreiben: „DDR Nostalgie pur“, „zurück in die Kindheit“, „schmeckt wie von meiner Mami“, „sollte unter Denkmalschutz gestellt werden“, „wie aus einer anderen Zeit“. Das Café ist eine Art unfreiwilliges Museum des gefühlten Realsozialismus, das Ausflüglern ausschließlich positiv besetzte Erinnerungskultur bietet. Auch das Phänomen der Warteschlange gehört dann im „Hermannstein“dazu. Die einzige Karte mit dem Angebot des Tages ist eine Art Schieberegister aus buntem Plastik. Sie hängt dort, wo sie schon zur Eröffnung vor 53 Jahren hing: Gleich über der Mixmaschine, die seit 1966 unermüdlich Shakes produziert, bevorzugt aus Erdbeereis, bevorzugt mit einem Schuss Zitrone.
„Wozu bitte brauche ich Speisekarten?“, ruft Gerd Sostak voller fröhlicher Empörung, der fortan, darauf legt er Wert, nur Gerd genannt werden will, da, sagt er rede es sich doch viel besser. „Wozu bitte brauche ich Speisekarten?“, ruft also Gerd und zeigt auf das Schild an der Wand, gleich gegenüber dem Eingang. „Selbstbedienung“steht dort hinter Glas und im goldenen Rahmen, seit 1966, versteht sich. „Die Leutchen sehen doch am Tresen, was es bei uns Schönes gibt!“
Es ist ja auch eigentlich sehr einfach: Im Café „Herrmannstein“in der Schmückerstraße 36a in Manebach gibt es das, was es immer gab. Sauerkirsch-Eisbecher mit Sahne. Erdbeer-Eisbecher mit Sahne. Bananen-Eisbecher mit Sahne. Dazu der Eisbecher „Hermannstein“, mit extra viel Sahne. Ansonsten sind noch die Shakes zu erwähnen, die selbst gebackene Sahnequark-Torte mit der roten Fruchtglasur und das Eis in der Waffel, Vanille, Schoko, Erdbeere, in dieser Reihenfolge. Denn das, sagt Gerd, bestellten immer noch die meisten. Na gut, wer unbedingt wolle, der könne auch die Sorten Joghurt, Haselnuss und „Exotic“mit C haben, oder wie das neumodische Zeugs so heiße.
Es war Mitte der 1960er-Jahre und Gerd keine zehn Jahre alt, als sein Vater nach Manebach kam und das Haus in der Schmückerstraße kaufte, in dem sich eine große Gastwirtschaft mit Festsaal befand. Doch das interessierte Sostak senior nicht, denn er hatte einen anderen und ja, ziemlichen abenteuerlichen Plan. Er trennte das Gebäude, in dem sich die Bühne befunden hatte, vom restlichen Haus ab, kaufte buntkarierte SprelacartTische und mit Kunstleder bezogene Stühle, dazu einen Tresen, den Mixer und das Schieberegister aus Plastik, des Weiteren viele Eisbecher aus eloxiertem Aluminium und Geschirr aus Kahla. Von den 9500 Mark, die er für seinen alten IFA F9 bekam, erwarb er eine Eismaschine. Mit der Familie zog er in die zweite Etage.
Dann, am 1. Mai 1966, wurde das Eiscafé eröffnet, das in der DDR nicht Eiscafé hieß, sondern „Milchbar“. Er arbeitete auf Kommissionsbasis für die HO, die staatliche Handelsorganisation, die das Gas und den Strom zahlte und die Eltern formal anstellte. Es war eine Art ökonomischer Shake, gemixt aus viel Sozialismus und ein bisschen Kapitalismus, der am Ende zwischen DDR und Milchbarbetreiber geteilt wurde. Damit hatten die Sostaks ihre Ruhe vor Partei und Obrigkeit. Vor allem aber kamen sie durch die HO einigermaßen zuverlässig an die Grundzutaten für ihr Eis, an Vollmilchpulver, Zucker und Emulgator – und auch an das, was es sonst für den gemeinen DDR-Menschen kaum gab: Kakaopulver, frische Erdbeeren, ja sogar Bananen, dazu noch Mandarinen und Ananas aus der Dose. Trotzdem, sagt Gerd, hätten die Dörfler am Anfang seinen Eltern nur ein halbes Jahr gegeben, nicht mehr. Eine Eisdiele im Thüringer Wald, in dem es damals noch von Oktober bis Ostern schneite: Wer, fragten sie, komme denn auf so etwas Verrücktes?
Spätestens Weihnachten sei die Eiswaffel gegessen, und zwar für immer. Aber es kam anders. „Gleich im ersten Sommer rannten uns die Leute die Bude ein“, sagt Gerd. Die Eltern seien gar nicht hinterhergekommen, die Aluchips zu zählen, wie der DDR-Mensch sein Geld nannte. An warmen Sommertagen bildete sich schon um 10 Uhr, wenn die Milchbar öffnete, die erste Schlange.
Im Jahr 1982, mit 26, nach der Ausbildung zum Konditor, übernahm Gerd das Café von den Eltern, ein Jahr später heiratete er seine Angestellte Martina. 1986 bekamen sie Sohn Michael. Der Rest war Arbeit. In der Saison hatten sie sechs Tage die Woche auf, an manchen schufteten sie bis zu 15 Stunden. Oft waren sie nur zu dritt, Gerd an der Eismaschine im Keller, Martina und Inge, die Schwester von Gerd, am Tresen. „Klar sehne ich mich nicht nach der DDR zurück“, sagt Gerd. „Doch obwohl wir rammeln mussten wie die Kaputten, war das für mich auch schön damals. Es gab einen Zusammenhalt, den wir heute nicht mehr haben, ein menschliches Miteinander.“Dann kam das Jahr 1990 und vieles wurde anders, mit dem Miteinander, aber auch mit der Milchbar. Am 1. Juli, dem Tag der Währungsunion, als in der DDR die D-Mark eingeführt wurde, war der „Hermannstein“von einem Tag auf den anderen leer. „Die Leute wollten plötzlich nichts mehr haben, was aus dem Osten kam“, sagt Martina. Und so taten die Sostaks etwas, was sie bis dahin noch nie in
Mixmaschine seit 1966 im Einsatz
Kunden bleiben nach der Wende aus
ihrem Berufsleben getan hatten und danach auch nie wieder tun würden: Sie fuhren in den Urlaub, in den Westen, ans Meer.
Gab es den Gedanken, damals das Café aufzugeben? Nein, Gerd und Martina schauen sich an. Nein, niemals. Aber sie hatten es plötzlich schwerer. Es dauerte zwei, drei Jahre, bis das Geschäft wieder einigermaßen lief. Die Kundschaft bestand nun aus Dorfbewohnern und den Städtern, die eigens aus Ilmenau, Weimar oder Jena anreisten. Hinzu kamen Radfahrer, Wanderer, Schulklassen. Die Sostaks investierten in eine neue Heizung und eine neue Eismaschine aus Italien. Als Gerd überlegte, ob sie Marmortische anschaffen sollten und diese großen Spiegel an den Wänden, wie sie es in den Eisdielen im Westen gesehen hatten, legte Martina ihr Veto ein. „Ich habe Gerd gesagt, die Tische sind zu schwer, die kann ich nicht herumrücken“, sagt sie. „Und die Spiegel, die müsste er dann schon selber jeden Tag abwischen, das mache ich nicht.“
Damit hatte sich das Thema Marmor und Spiegel erledigt, es
blieb bei Sprelacart und Kunstleder. Und plötzlich, im neuen Jahrhundert, so sagt es Martina: „wurde das alles Kult.“Inzwischen kommen die Menschen in den „Hermannstein“, um ihre Vergangenheit wiederzufinden. Es ist eine von freundlicher Nostalgie durchtränkte Vergangenheit, ohne Mauer, Stasi und Parteilehrjahr, dafür aber mit Erdbeereis, Schlagsahne und einem Schuss Zitrone, serviert in eloxiertem Aluminium und Schkopauer Plaste.
Nächstes Jahr, im Oktober, schließt das Milchbar-Museum in Manebach. Gerd ist inzwischen 65, er läuft nur noch gebückt, der Rücken ist kaputt, das eine Knie auch. An sechs Tagen die Woche muss er mehrmals hinunter in den Keller, zur Eismaschine, 15 Stufen runter, 15 Stufen hoch. Und vielleicht, wer weiß, ist es auch an der Zeit, dass das vergeht, was von der DDR übrig blieb.
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