Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Ein gar nicht so fernes Ereignis
Edelbert Richter erinnert an die Gründung des Demokratischen Aufbruchs heute vor 30 Jahren und blickt auf die Lage vor 100 Jahren zurück
Vermutlich geht es älteren Lesern ähnlich: Ich wundere mich sehr, dass seit unserer friedlichen Revolution 30 Jahre vergangen sein sollen. So weit weg kann dieses Ereignis doch noch nicht sein! Dennoch ist das fast derselbe Zeitraum wie zwischen dem Beginn des 1. Weltkriegs und dem Ende des 2. Weltkriegs! Was haben unsere Eltern oder Großeltern in diesen 30 Jahren nicht alles erleben und erleiden müssen! Jedenfalls mehr als wir in unseren 30 Jahren.
Das sind auch schon drei Viertel der Zeit, in der Deutschland geteilt war und der Kalte Krieg herrschte. Er gipfelte bekanntlich Anfang der 1980er Jahre in der Stationierung von Mittelstreckenraketen in Ost und West und damit einer besonderen atomaren Bedrohung der beiden deutschen Staaten. Sie hätte zur Wiedervereinigung im Massengrab führen können! Dass es anders kam, haben wir unter anderem dem INF-Vertrag von 1987 zwischen den USA und der Sowjetunion zu verdanken.
Was bedeutet es aber, dass eben dieser Vertrag jüngst von den Großmächten gekündigt wurde? Kehrt die Bedrohung damit etwa wieder? Gott sei Dank ist es damals anders gekommen. Ich sage bewusst „Gott sei Dank“, denn das ist nicht das Verdienst der Politiker oder der Bürgerrechtler. Nur ein kleines bisschen haben wir wohl dazu beigetragen, in dem wir 1989 erkannt haben, „was die Stunde schlägt“. Wir haben Sinn für den Augenblick bewiesen und den Demokratischen Aufbruch (DA) gegründet. Rainer Eppelmann und Friedrich Schorlemmer sind wohl die bekanntesten, die dabei waren. Das geschah interessanterweise am 21. August, am Jahrestag des Einmarschs der Sowjetarmee in die Tschechoslowakei 1968, des Beginns also der Niederschlagung des Prager Frühlings. Diese Niederlage wollten wir zunächst symbolisch rückgängig machen, ohne freilich zu ahnen, dass uns das auch real gelingen würde. – Man beachte wieder den langen Zeitraum von mehr als 20 Jahren, der dazu nötig war!
Interessant auch, dass das Treffen sehr konspirativ in einer Wohnung in Dresden stattfand! Ich weiß übrigens selber gar nicht mehr, wo, aber das hat der Staatssicherheitsdienst sicher erfasst, denn er war ja – wie sich später herausstellte – in Gestalt von Wolfgang Schnur mitten unter uns! Man sieht, dass eine Revolution durchaus auch komische Züge trägt.
Ich will nun auf unsere Diskussion und die Beschlüsse von damals nicht weiter eingehen, nur noch auf ein charakteristisches Detail: Es war ein sehr heißer Tag, obwohl man an die Klimakatastrophe damals noch nicht dachte. Wir gerieten in das DDR-übliche Dilemma, bei nicht eingeplanter Hitze noch etwas zu trinken zu bekommen. Die Lösung des Problems kam ausgerechnet von dem Mann, der sich später als Stasi-Mitarbeiter herausstellen sollte: Schnur fuhr mit Leuten von uns geduldig umher bis zum Neustädter Bahnhof, wo sie schließlich Wein kauften. So konnten wir auf unseren Gründungsakt sogar das Glas erheben und anstoßen.
TLZ-Gastautor Edelbert Richter, Jahrgang , Theologe, war schon zu DDR-Zeiten ein kritischer Geist, friedens- und ökobewegt. Er wurde nach der friedlichen Revolution Politiker; war vor allem auf Bundesebene tätig. Vom DA war er zur SPD gegangen, die er wegen der Agenda verließ, so fand er zu den Linken. Richter lebt in Weimar; er hat zahlreiche Schriften verfasst.
„Die Stationierung der Mittelstreckenraketen in Ost und West hätten zur Wiedervereinigung im Massengrab führen können.“
Edelbert Richter, DA-Mitbegründer 1989