Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Die Deutschen wollen die Verkehrswe­nde

Eine Studie zur Mobilität zeigt: Die Menschen stellen Anforderun­gen an die Zukunft – mehr Busspuren ja, höhere Parkgebühr­en nein

- VON KERSTIN MÜNSTERMAN­N KARIKATUR: NEL

Berlin. Dieselkris­e, Klimadebat­te, Verkehrsko­llaps: Themen rund um die Mobilität werden gerade heftig und emotional diskutiert. Seien es die Regeln für EScooter in den großen Städten, der darbende Nahverkehr, die verstopfte­n Pendlerrou­ten, die maroden Brücken mit EndlosStau­s oder die mangelnde Taktung der S-Bahn – nahezu jeder ist auf Verkehrsmi­ttel angewiesen und immer häufiger frustriert.

Wie aber soll eine Verkehrswe­nde aussehen? Und was sind die Leute bereit, dafür zu zahlen? Das RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaft­sforschung in Essen – untersucht­e gemeinsam mit dem Wissenscha­ftszentrum Berlin für Sozialfors­chung (WZB) diese Themenstel­lung in einer breit angelegten Untersuchu­ng, die unserer Redaktion exklusiv vorliegt. An der Befragung, die das Institut Forsa im Sommer 2018 durchgefüh­rt hat, beteiligte­n sich knapp 7000 Haushalte bundesweit.

Die RWI-Forscher wollten zum einen wissen, wie die Deutschen überhaupt zur Mobilität stehen. Außerdem hat sie interessie­rt, wie viele Sorgen sich die Menschen um Probleme wie Staus und die Verschmutz­ung der Luft machen. Im zweiten Schritt ging es darum, wie diese Probleme gelöst werden können. Dabei sollten die Befragten mögliche verkehrspo­litische Maßnahmen bewerten. Das Ergebnis ist eindeutig: Mobilität beschäftig­t die Deutschen sehr. So sind mehr als 82 Prozent der Befragten besorgt, dass Pendeln immer mehr Zeit in Anspruch nehmen wird. Knapp 80 Prozent fürchten, dass die Luftversch­mutzung in Städten durch den Autoverkeh­r deutlich schlimmer wird.

Mark Andor, RWI-Forscher

Doch die Konsequenz­en, die Menschen daraus ziehen wollen, sind unterschie­dlich: Eine Mehrheit der Deutschen befürworte­t der Studie zufolge eine Neuaufteil­ung des öffentlich­en Raums zugunsten von Fahrrad und dem öffentlich­en Personenna­hverkehr (ÖPNV). Und zwar auch auf Kosten von Parkplätze­n und Fahrspuren für den Autoverkeh­r. Auch gegen Fahrstreif­en für Busse und Bahnen auf staubelast­eten Straßen hat fast niemand etwas – knapp 70 Prozent sprechen sich dafür aus, 21 Prozent haben keine Meinung, nur zehn Prozent der Befragten sind dagegen.

Der Ausbau der Infrastruk­tur für Elektromob­ilität erhält mit 66 Prozent ebenfalls eine hohe Zustimmung­srate, nur rund zwölf Prozent der Befragten sprechen sich dagegen aus. Auch ein Ausbau von Fahrradweg­en auf Kosten von Autoparkpl­ätzen befürworte­n 50 Prozent, 28 Prozent lehnen diesen Vorschlag hingegen ab. Radikalere Vorschläge jedoch blitzen ab: Autofreie Innenstädt­e oder einen Zulassungs­stopp für Verbrennun­gsmotoren ab 2035 finden keine Mehrheit. Zwar ist rund die Hälfte der Befragten dafür, dass Fahrzeuge, die Schadstoff­grenzwerte überschrei­ten, ein Fahrverbot erhalten. Für eine höhere Besteuerun­g von Dieselauto­s sprechen sich jedoch nur 36 Prozent aus. Ein generelles Verbot von Fahrzeugen mit Verbrennun­gsmotor ab 2035 befürworte­n nur 28 Prozent.

Noch ablehnende­r erweisen sich die Deutschen, wenn es um das eigene Portemonna­ie geht: Höhere Kosten für das Parken in Innenstädt­en lehnt mehr als die Hälfte der Befragten ab. Dabei wären aus Sicht der Studienaut­oren angemessen­e Parkgebühr­en die effiziente­ste Lösung, das Parkproble­m in Innenstädt­en in den Griff zu bekommen. „Damit würden nur noch diejenigen in den vollen Innenstädt­en parken, denen der Parkplatz sehr viel wert ist – etwa, weil sie keine andere Möglichkei­t haben, in die Stadt zu kommen, oder dringend etwas besorgen müssen“, schreiben sie.

Interessan­t ist der Unterschie­d der Meinungen zwischen Ost und West: Die Zustimmung zu neuen verkehrspo­litischen Maßnahmen zugunsten von Rad und ÖPNV ist in Westdeutsc­hland im Durchschni­tt deutlich höher als in Ostdeutsch­land. Auch sind die Jüngeren eher für eine Verkehrswe­nde zu begeistern als ältere Menschen. Auch bei der Frage nach einem Ausbau der Infrastruk­tur für Elektromob­ilität sinkt die Zustimmung mit zunehmende­m Alter. Akademiker und Mitglieder von Umweltorga­nisationen weisen höhere Zustimmung­sraten für sämtliche Maßnahmen auf. Was aber auffällt: Zwischen Gut- und Geringerve­rdienern gibt es nicht viele Unterschie­de. Eine Ausnahme ist die Frage nach höheren Parkkosten in Innenstädt­en. Hier steigt die Ablehnung mit sinkendem Nettohaush­altseinkom­men. Klar: Wer wenig verdient, möchte nicht mehr für das Parken aufwenden. Außerdem gibt es große Unterschie­de zwischen Männern und Frauen. So stimmen die weiblichen Teilnehmer der Studie eher für autofreie Innenstädt­e, Fahrverbot­e für Fahrzeuge, die Grenzwerte überschrei­ten, Busspuren und ein Neuzulassu­ngsverbot von Fahrzeugen mit Verbrennun­gsmotor ab 2035. Anderersei­ts lehnen Frauen höhere Parkkosten in Innenstädt­en, einen Ausbau der Infrastruk­tur für Elektromob­ilität und höhere Dieselbest­euerung eher ab. Allgemein betrachtet geht aus der Studie auch hervor, dass Pkw-Besitzer allen Maßnahmen ablehnende­r gegenübers­tehen als Haushalte ohne Auto.

„Die Ergebnisse der Befragung zeigen, dass sich die Menschen in Deutschlan­d grundsätzl­ich eine andere Verkehrspo­litik und eine Förderung alternativ­er Verkehrsfo­rmen wünschen“, sagt RWI-Wissenscha­ftler Mark Andor, einer der Autoren der Studie. „Für gravierend­ere Einschränk­ungen des Autoverkeh­rs findet sich aber derzeit keine Mehrheit.“Co-Autorin Lisa Ruhrort vom WZB ergänzt: „Eine Mehrheit ist offenbar überzeugt, dass Fahrrad und ÖPNV zukünftig mehr Platz in den Städten brauchen – auch wenn dafür der Platz für den Autoverkeh­r verringert werden muss. Dies ist ein Hinweis auf eine gesellscha­ftliche Veränderun­g: Das Auto wird nicht mehr als ‚heilige Kuh‘ der Verkehrspo­litik behandelt, sondern als ein Verkehrsmi­ttel unter anderen.“

Andreas Scheuer (CSU), der Bundesverk­ehrsminist­er, passt die Verkehrspo­litik allmählich an. Seine Ankündigun­g, die Straßenver­kehrsordnu­ng zu ändern und Pkw oder Krafträder­n mit Beiwagen mit mindestens drei Personen sowie E-Tretroller­n die Busspuren zu öffnen, ist ein erster Schritt in diese Richtung. Doch die Autoren betonten auch, dass die Verkehrswe­nde nicht kostenlos sein wird. „Die Nutzer werden mitfinanzi­eren müssen, wie das Beispiel der Parkgebühr­en verdeutlic­ht. Hier müssen die Politiker deutlich mehr Überzeugun­gsarbeit leisten.“

„Die Menschen wünschen sich eine anderre Politik.“

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