Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Zug zu spät – kein Geld zurück
EU will Entschädigungen für Bahnreisende bei Verspätungen massiv einschränken
Brüssel. Immer mehr Fahrgäste in Deutschland pochen bei Zugverspätungen oder -ausfällen auf ihre Rechte: Sie lassen sich von der Bahn eine Entschädigung auszahlen. 2018 stiegen die entsprechenden Erstattungen der Bahn auf rund 54 Millionen Euro, eine Verdopplung innerhalb von zwei Jahren. Doch künftig könnten viele Kunden trotz erlittener Unannehmlichkeiten leer ausgehen: Die Europäische Union will die Entschädigungsansprüche von Fahrgästen deutlich einschränken – in vielen Fällen soll die Bahn bald von den Zahlungspflichten entbunden werden, etwa bei „extremen Wetterbedingungen“.
So steht es in einem vorabgestimmten Beschlussentwurf zur Novellierung der EU-Fahrgastrechteverordnung, den die Verkehrsminister der 28 EU-Staaten am Montag beschließen werden und der unserer Redaktion vorliegt. Verbraucherschützer und Verbände sind empört, fordern den Verzicht auf die Pläne. „Solange die Bahn Probleme mit der Pünktlichkeit hat, müssen die Fahrgäste wenigstens klare Ansprüche auf Entschädigung bei Verspätungen haben“, mahnt der Verkehrsclub Deutschland (VCD). Die Pläne der Verkehrsminister seien „verbraucherunfreundlich und nicht mit den Klimaschutzzielen der EU vereinbar“.
Der Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) klagt: „Die Mitgliedstaaten haben kein Interesse an einer verbraucherfreundlichen Lösung, sondern vertreten sehr stark das Interesse der Bahnunternehmen – zu Lasten der Fahrgäste, die eine deutliche Verschlechterung hinnehmen müssten.“Die bisherigen Regelungen, so der Verband, seien klar und verlässlich, Kunden würden ihre Rechte daher zunehmend wahrnehmen.
Das Entschädigungsrecht ärgert viele Bahnunternehmen
Die EU-Regeln: Ab 60 Minuten Verspätung muss die Bahn mindestens
25 Prozent des Fahrpreises auf Antrag erstatten, ab 120 Minuten sind
50 Prozent fällig. Das Verfahren ist umständlich, doch hat Bahnchef Richard Lutz angekündigt, dass ab
2021 Anträge auch unkompliziert über das Internet gestellt werden können. Aber das Entschädigungsrecht ist vielen Bahnunternehmen in Europa ein Dorn im Auge. Sie beklagen einen Wettbewerbsnachteil gegenüber den Fluggesellschaften, die in Fällen höherer Gewalt auch bei größeren Verspätungen keine Entschädigungen zahlen müssen.
Verbraucherexperten betonen zwar, die Systeme ließen sich nur schwer vergleichen, denn im Luftverkehr gehe es um feste Summen im dreistelligen Bereich, bis zu 600 Euro werden bei gravierender Unpünktlichkeit fällig. Doch die oftmals staatseigenen Bahnen fanden Gehör in der EU. Die Kommission schlug schon vor zwei Jahren vor, die Ausgleichspflicht in Fällen höherer Gewalt zu streichen. Das damalige EU-Parlament widersprach der Initiative zwar 2018. Es forderte sogar, die Entschädigungssummen zu erhöhen und bei mindestens zweistündiger Verspätung den Fahrpreis komplett zu erstatten.
Doch von höheren Zahlungspflichten wollen die EU-Staaten jetzt nichts wissen. Stattdessen wollen sie nun doch eine deutliche Verschlechterung durchsetzen; auch die Bundesregierung wird dem Vernehmen nach auf Drängen von Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) am Montag zustimmen. Auf dieser Basis würden die Kunden stets leer ausgehen bei „extremen Wetterbedingungen“, „schweren Naturkatastrophen“oder in Fällen, in denen Züge durch Selbstmorde, Betreten der Gleise, Kabeldiebstähle, Notfälle im Zug, Strafverfolgungsmaßnahmen, Sabotage oder Terrorismus behindert werden.
Die Wirkung der Ausnahmen ist aus Verbraucherschutzsicht verheerend – es drohten „erhebliche Rechtsunsicherheit“und zahllose Auseinandersetzungen wie jetzt bei Flugverspätungen: „Wir befürchten, dass die Unternehmen versuchen werden, sich sehr oft auf diese Ausnahmeregelung zu berufen, um Entschädigungspflichten zu umgehen“, sagt vzbv-Verkehrsexperte Gregor Kolbe. Dann müssten die Bahnkunden in jedem Fall beweisen, dass es sich nicht um einen Ausnahmefall gehandelt hat. „Das ist für die Verbraucher im Grunde eine Blackbox, das Risiko trägt der Fahrgast – mit dem Ergebnis, dass viele Kunden dann doch lieber das eigene Auto nehmen, statt die Bahn.“Der Verband fordert, dass auf die Pläne verzichtet wird.
So sieht es auch der umweltorientierte Verkehrsclub Deutschland: Der Vorschlag bedeute eine Absenkung der Verbraucherrechte und werde zu großer Verunsicherung führen: „Die Fahrgäste wissen ja im Einzelfall nicht, was die Ursache für die Verspätung ist und ob sie überhaupt Ansprüche hätten.“Es gebe aber noch die Hoffnung, dass das EU-Parlament das Vorhaben stoppt.
Wie das Parlament, das sich erst neu mit dem Thema befassen muss, auf die starke Front von Kommission und Mitgliedstaaten reagiert, ist ungewiss. Grünen-Abgeordnete und Verkehrsexpertin Anna Deparnay-Grunenberg spricht aber schon von einem „massiven Rückschritt“und „nicht hinnehmbarer Rechtsunsicherheit“für die Bahnreisenden.