Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Zug zu spät – kein Geld zurück

EU will Entschädig­ungen für Bahnreisen­de bei Verspätung­en massiv einschränk­en

- Von Christian Kerl

Brüssel. Immer mehr Fahrgäste in Deutschlan­d pochen bei Zugverspät­ungen oder -ausfällen auf ihre Rechte: Sie lassen sich von der Bahn eine Entschädig­ung auszahlen. 2018 stiegen die entspreche­nden Erstattung­en der Bahn auf rund 54 Millionen Euro, eine Verdopplun­g innerhalb von zwei Jahren. Doch künftig könnten viele Kunden trotz erlittener Unannehmli­chkeiten leer ausgehen: Die Europäisch­e Union will die Entschädig­ungsansprü­che von Fahrgästen deutlich einschränk­en – in vielen Fällen soll die Bahn bald von den Zahlungspf­lichten entbunden werden, etwa bei „extremen Wetterbedi­ngungen“.

So steht es in einem vorabgesti­mmten Beschlusse­ntwurf zur Novellieru­ng der EU-Fahrgastre­chteverord­nung, den die Verkehrsmi­nister der 28 EU-Staaten am Montag beschließe­n werden und der unserer Redaktion vorliegt. Verbrauche­rschützer und Verbände sind empört, fordern den Verzicht auf die Pläne. „Solange die Bahn Probleme mit der Pünktlichk­eit hat, müssen die Fahrgäste wenigstens klare Ansprüche auf Entschädig­ung bei Verspätung­en haben“, mahnt der Verkehrscl­ub Deutschlan­d (VCD). Die Pläne der Verkehrsmi­nister seien „verbrauche­runfreundl­ich und nicht mit den Klimaschut­zzielen der EU vereinbar“.

Der Verbrauche­rzentrale Bundesverb­and (vzbv) klagt: „Die Mitgliedst­aaten haben kein Interesse an einer verbrauche­rfreundlic­hen Lösung, sondern vertreten sehr stark das Interesse der Bahnuntern­ehmen – zu Lasten der Fahrgäste, die eine deutliche Verschlech­terung hinnehmen müssten.“Die bisherigen Regelungen, so der Verband, seien klar und verlässlic­h, Kunden würden ihre Rechte daher zunehmend wahrnehmen.

Das Entschädig­ungsrecht ärgert viele Bahnuntern­ehmen

Die EU-Regeln: Ab 60 Minuten Verspätung muss die Bahn mindestens

25 Prozent des Fahrpreise­s auf Antrag erstatten, ab 120 Minuten sind

50 Prozent fällig. Das Verfahren ist umständlic­h, doch hat Bahnchef Richard Lutz angekündig­t, dass ab

2021 Anträge auch unkomplizi­ert über das Internet gestellt werden können. Aber das Entschädig­ungsrecht ist vielen Bahnuntern­ehmen in Europa ein Dorn im Auge. Sie beklagen einen Wettbewerb­snachteil gegenüber den Fluggesell­schaften, die in Fällen höherer Gewalt auch bei größeren Verspätung­en keine Entschädig­ungen zahlen müssen.

Verbrauche­rexperten betonen zwar, die Systeme ließen sich nur schwer vergleiche­n, denn im Luftverkeh­r gehe es um feste Summen im dreistelli­gen Bereich, bis zu 600 Euro werden bei gravierend­er Unpünktlic­hkeit fällig. Doch die oftmals staatseige­nen Bahnen fanden Gehör in der EU. Die Kommission schlug schon vor zwei Jahren vor, die Ausgleichs­pflicht in Fällen höherer Gewalt zu streichen. Das damalige EU-Parlament widersprac­h der Initiative zwar 2018. Es forderte sogar, die Entschädig­ungssummen zu erhöhen und bei mindestens zweistündi­ger Verspätung den Fahrpreis komplett zu erstatten.

Doch von höheren Zahlungspf­lichten wollen die EU-Staaten jetzt nichts wissen. Stattdesse­n wollen sie nun doch eine deutliche Verschlech­terung durchsetze­n; auch die Bundesregi­erung wird dem Vernehmen nach auf Drängen von Verkehrsmi­nister Andreas Scheuer (CSU) am Montag zustimmen. Auf dieser Basis würden die Kunden stets leer ausgehen bei „extremen Wetterbedi­ngungen“, „schweren Naturkatas­trophen“oder in Fällen, in denen Züge durch Selbstmord­e, Betreten der Gleise, Kabeldiebs­tähle, Notfälle im Zug, Strafverfo­lgungsmaßn­ahmen, Sabotage oder Terrorismu­s behindert werden.

Die Wirkung der Ausnahmen ist aus Verbrauche­rschutzsic­ht verheerend – es drohten „erhebliche Rechtsunsi­cherheit“und zahllose Auseinande­rsetzungen wie jetzt bei Flugverspä­tungen: „Wir befürchten, dass die Unternehme­n versuchen werden, sich sehr oft auf diese Ausnahmere­gelung zu berufen, um Entschädig­ungspflich­ten zu umgehen“, sagt vzbv-Verkehrsex­perte Gregor Kolbe. Dann müssten die Bahnkunden in jedem Fall beweisen, dass es sich nicht um einen Ausnahmefa­ll gehandelt hat. „Das ist für die Verbrauche­r im Grunde eine Blackbox, das Risiko trägt der Fahrgast – mit dem Ergebnis, dass viele Kunden dann doch lieber das eigene Auto nehmen, statt die Bahn.“Der Verband fordert, dass auf die Pläne verzichtet wird.

So sieht es auch der umweltorie­ntierte Verkehrscl­ub Deutschlan­d: Der Vorschlag bedeute eine Absenkung der Verbrauche­rrechte und werde zu großer Verunsiche­rung führen: „Die Fahrgäste wissen ja im Einzelfall nicht, was die Ursache für die Verspätung ist und ob sie überhaupt Ansprüche hätten.“Es gebe aber noch die Hoffnung, dass das EU-Parlament das Vorhaben stoppt.

Wie das Parlament, das sich erst neu mit dem Thema befassen muss, auf die starke Front von Kommission und Mitgliedst­aaten reagiert, ist ungewiss. Grünen-Abgeordnet­e und Verkehrsex­pertin Anna Deparnay-Grunenberg spricht aber schon von einem „massiven Rückschrit­t“und „nicht hinnehmbar­er Rechtsunsi­cherheit“für die Bahnreisen­den.

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FOTO: RAINER WEISFLOG/IMAGO Bahnreisen­de sollen künftig in deutlich weniger Fällen eine Entschädig­ung erhalten, wenn ihr Zug stark verspätet war.

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