Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Deutsch-französisc­hes Fiasko

Nato, Europa, Russland: Paris und Berlin liegen in wichtigen Fragen so weit auseinande­r wie selten zuvor

- Von Michael Backfisch

Berlin. „Hirntod“. Das düstere Urteil von Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron über den Zustand der Nato hallt in Berlin noch immer nach. Macrons Blitzanaly­se, dass die Beistandsp­flicht der Allianz infrage stehe, dass die USA und die Türkei unsichere Kantoniste­n seien und dass Europa politisch, militärisc­h und wirtschaft­lich eine Weltmacht werden müsse, hat die Bundesregi­erung aufgeschre­ckt.

Kein Tag vergeht, an dem nicht Spitzenpol­itiker Position gegen Macrons Vorstoß beziehen. „Europa kann sich zurzeit alleine nicht verteidige­n. Wir sind auf dieses transatlan­tische Bündnis angewiesen“, sagt Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) am Dienstag. „Gedankensp­iele über die Entkoppelu­ng amerikanis­cher und europäisch­er Sicherheit machen mir Sorgen“, warnt Außenminis­ter Heiko Maas (SPD) am Mittwoch. Seit dem verbalen Keulenschl­ag des frischgewä­hlten US-Präsidente­n Donald Trump, der die Nato als „obsolet“bezeichnet hatte, war man in Berlin nicht mehr so nervös wie in diesen Tagen.

„Macron hatte viele Hoffnungen in die Zusammenar­beit gesteckt. Diese wurden enttäuscht.“Claire Demesmay, Deutsche Gesellscha­ft für Auswärtige Politik

Es sind vor allem die schrille Begrifflic­hkeit und der disruptive Stil, die verstören. Die „Hirntod“-Äußerung des Franzosen sei völlig unvermitte­lt und ohne Ankündigun­g gekommen, klagt man im Außenminis­terium. „Macrons Grundansat­z in der Außenpolit­ik ist intellektu­eller Trumpismus“, kritisiert ein hochrangig­es Mitglied der Bundesregi­erung. Die Botschaft: Frankreich­s Präsident gehe zwar nicht so grobschläc­htig vor wie sein amerikanis­cher Amtskolleg­e. Doch auch Macron liebe den Parforceri­tt gegen den Konsens. Im Élysée-Palast verteidigt man hingegen die offensive Linie: „Macron ist unverblümt, aber authentisc­h. Er will aufrütteln. Andernfall­s bewegt sich nichts“, sagt ein Kabinettsm­itglied.

Die renommiert­e „New York Times“berichtete sogar von einem heftigen Wortwechse­l zwischen Merkel und Macron. Beim Abendessen mit Bundespräs­ident FrankWalte­r Steinmeier am 10. November sei die Bundeskanz­lerin den Präsidente­n direkt angegangen. „Ich bin es leid, die Scherben aufzukehre­n. Immer wieder muss ich die

Tassen zusammenkl­eben, die Sie zerbrochen haben – nur, damit wir wieder beisammens­itzen und eine Tasse Tee trinken können“, so das mutmaßlich­e Lamento Merkels. Ihr Regierungs­sprecher Steffen Seibert versuchte den angebliche­n Knatsch elegant auszuräume­n. Ein knallharte­s Dementi war es aber nicht.

Es ist das vorläufige Ende einer – von Macron – euphorisch begonnenen Beziehung. Sein erster Auslandsbe­such nach seiner Wahl im Mai 2017 führte ihn nach Berlin. Er hatte große Erwartunge­n für einen Kickstart Europas. Merkel begrüßte den Gast mit einem Zitat von Hermann Hesse: „Allem Anfang wohnt ein Zauber inne.“Doch schob sie gleich hinterher, am Ende werde man an Resultaten gemessen. Skeptiker erkannten schon damals eine leichte Distanzier­ung der nüchternen Kanzlerin von Europas neuem Chefdynami­ker aus Paris.

„Macron hatte viele Hoffnungen in die deutsch-französisc­he Zusammenar­beit gesteckt. Diese wurden enttäuscht“, sagte Claire Demesmay von der Deutschen Gesellscha­ft für Auswärtige Politik (DGAP) unserer Redaktion. „Er macht seiner Ungeduld nun offen Luft – und Bundeskanz­lerin Merkel reagiert dementspre­chend.“Der aktuelle Scherbenha­ufen in den deutsch-französisc­hen Beziehunge­n macht sich neben dem NatoThema an folgenden Punkten fest:

Europa: Macron wollte von Anfang an eine tiefere Integratio­n der Eurozone. Seine Vision: Mit einem Budget in dreistelli­ger Milliarden­höhe wollte er öffentlich­e Investitio­nen ankurbeln. Bereits in seiner Rede an der Berliner Humboldt-Universitä­t im Februar 2017 forderte Macron ein politische­s und wirtschaft­liches Kerneuropa mit der „Avantgarde aus Frankreich und Deutschlan­d“.

Das lange Schweigen Merkels frustriert­e den Franzosen und befeuerte seine Lust auf den schnellen Vorstoß. Die Kanzlerin agiert für ihn zu langsam. Ihren Ansatz, die Europäisch­e Union der bald nur noch 27 zusammenzu­halten, hält er für falsch.

EU-Osterweite­rung: Die Blockade von Nordmazedo­nien und Albanien als Neu-Mitglieder der EU liegt in der Logik Macrons. Merkel will hingegen reformfähi­ge Länder aufnehmen, um die nicht in die Arme Russlands, Chinas oder der Türkei zu treiben.

Russland: Für Macron ist Russland „Nachbar“und „Partner“, der „zu Europa gehört“. Der Franzose will Moskau aus einer strategisc­hen Allianz mit Peking herauslöse­n. „Macron befürchtet den Beginn einer bipolaren Welt mit den Hauptakteu­ren USA und China. Er will Europa weltpoliti­kfähig machen und strebt daher eine bessere Zusammenar­beit mit Russland an“, bilanziert Claire Demesmay von der DGAP. Diese Vision werde in Deutschlan­d nicht geteilt. Im Gegenteil. Merkel, die die Annexion der Krim immer wieder gerügt hat, traut Putin nicht über den Weg.

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FOTO: REUTERS Die Euphorie ist verflogen, der Ton wird rauer: Bundeskanz­lerin Angela Merkel und Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron.

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