Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Kein Tag für Feiern

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Zum Beschluss des Erfurter Stadtrates, ein großes Bürgerfest am 8. Mai 2020 zu feiern:

Lediglich die Abgeordnet­en der AfD im Erfurter Stadtrat waren gegen diesen Vorschlag, denn der Tag des Kriegsende­s sei eher ein Tag des Gedenkens. Dieser Sichtweise seitens der AfD ist vollkommen zuzustimme­n. Schon vor Jahren hatte der langjährig­e Leiter der Stasi-Gedenkstät­te Berlin-Hohenschön­hausen, Hubertus Knabe, zu diesem Thema ein Buch veröffentl­icht und dem Titel „Tag der Befreiung?“ausdrückli­ch ein Fragezeich­en beigefügt. Nicht nur hier kann nachgelese­n werden, wie das Sterben, die Bedrohung und Rechtlosig­keit unter dem Besatzungs­regime zumindest in Ost- und Mitteldeut­schland nach Kriegsende noch jahrelang weiterging­en. Ganz zu schweigen von der Trauer in fast allen Familien und den Lebensumst­änden damals, die sich schon während des Krieges und insbesonde­re in dessen Schlusspha­se mehr und mehr zuspitzten (Verletzte, Hungernde, Ausgebombt­e, Vertrieben­e, Verschlepp­te, Vergewalti­gte). Nach dem Krieg blieben die Lebensumst­ände für alle Deutschen ganz schwierig, besonders aber in Ostdeutsch­land (jetzt polnisch) und in der sowjetisch­en Besatzungs­zone (Mitteldeut­schland) und natürlich in den deutschen Siedlungsg­ebieten in ganz Osteuropa.

Über 12 Millionen Deutsche wurden vertrieben, von denen rund zwei Millionen dabei ihr Leben verloren. Kriegsgefa­ngene und Zwangsarbe­iter kehrten, sofern sie überlebten, oft erst nach Jahren in die Heimat zurück. Ist denn angesichts dieser katastroph­alen Niederlage 1945 und derartigen Verheerung­en und Opfern das Feiern von Festen nicht ein sehr fragwürdig­er Gedanke? Dies mag letztlich zwar Ansichtssa­che sein, zeigt indes wohl mehr ein Bedienen heutiger Reflexe und gibt den Eindruck, als ob sich links-rot-grüne Weltsicht mit den gegenwärti­gen Bedürfniss­en nach Spaßkultur so merkwürdig vermischt. Die Vorwürfe der anderen Parteien gegen die AfD-Vertreter sind mehr oder minder geschichts­klitternd.

Richard von Weizsäcker hatte in seiner erwähnten Rede 1985 alle Umstände der damaligen Situation am 8. Mai 1945 umrissen, wobei die Befreiung eben nur ein Aspekt davon war. Insofern ist dem AfD-Politiker Aust in seiner Berufung darauf ohne weiteres beizupflic­hten. Nebenbei bemerkt ist das Ausklammer­n der AfD-Vertreter aus den Vorbesprec­hungen zu diesem Antrag durch die restlichen Stadtrat-Parteien ein höchst undemokrat­ischer Vorgang.

Rüdiger Fuchs, Erfurt

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