Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Von der Dimension des Lernens und Lesens
Joachim Król kommt mit Camus-Roman ans Erfurter Theater. Im Interview spricht der Schauspieler über Flüchtlinge ohne Vergangenheit
Erfurt. Einer der gefragtesten Schauspieler des deutschen Films ist im Rahmen seiner aktuellen Lesereise am Sonntag, 19. Januar, zu Gast im Theater: Joachim Król. Mit Albert Camus’ unvollendetem Manuskript „Der erste Mensch“erzählt Król die unglaubliche Geschichte einer Kindheit. Einem Millionenpublikum bekannt geworden ist Joachim Król unter anderem als schwuler Norbert in „Der bewegte Mann“. Im Kino sah man Król zuletzt in der Verfilmung der Hape Kerkeling-Biografie „Der Junge muss an die frische Luft“.
Sie entführen mit Ihrer Lesung Ihre Zuhörer nach Algerien. Waren Sie schon einmal dort?
(lacht) Muss man in Lübeck gewesen sein, um Thomas Mann lesen zu können?
Was verbinden Sie mit Erfurt?
„Willy Brandt ans Fenster“, „RotWeiß“und „die Freunde der Italienischen Oper“.
Albert Camus „Der 1. Mensch“ist eine gleich auf mehreren Ebenen im Wortsinn packende Geschichte: Haben Sie auch deshalb den Stoff ausgewählt?
Ich war anfangs skeptisch, weil ich ein bestimmtes Bild von Camus hatte: der Existenzialist, der Philosoph, der streitbare Freund von Sartre.
„Der erste Mensch“aber bezieht sich auf die Kindheit von Camus, ist dicht dran an ihm. Er wollte sich damals neu erfinden, den Erzähler in sich entdecken – dafür ist es literaturgeschichtlich ein profundes Mittel, sich auf die eigene Biografie zu besinnen. Bei ihm war es die Vatersuche und die Suche nach der Kindheit. Daraus ist dieses leider fragmentarisch gebliebene Werk entstanden, das nach der Veröffentlichung gefeiert wurde. Fachleute haben gesagt, man müsse vor dem Hintergrund dieser erzählerischen Qualitäten das Werk von Camus noch mal neu betrachten.
Was erwartet die Besucher – eine auf welche Weise ungewöhnliche Lesung?
Es handelt sich um keine Lesung im klassischen Sinne. Dezente Projektionen gestalten den Bühnenhintergrund. Der Produzent Martin Mühleis hat das alles inszeniert und eingerichtet. Ich werde von fünf hervorragenden Musikern des „orchestre du soleil“begleitet, es gibt eine für die Lesung spezielle Musikzusammenstellung, gespielt auf afrikanisch-arabischen Instrumenten, Motive für Armut, Verlassenheit, Aufbruch. Wiederkehrende Elemente der Musik. Und ich folge mit dem Text der Musik. Ich glaube, wenn die Musikalität auf der Bühne stimmt, ist der Zuschauer viel besser in der Lage, dem Geschehen, oder wie in unserem Fall, dem Erscheinlich
Joachim Król während der Lesung aus „Der erste Mensch“.
zählten zu folgen. Wenn es uns gelingt, die Leute eineinhalb Stunden zu fesseln, und sie dazu bringen, nicht mir, sondern ihm, Camus, zuzuhören, dann bietet das jedem Zuschauer eine Möglichkeit, mitzugehen.
Worin sehen Sie dessen besondere Aktualität?
Es führt kein Weg daran vorbei, immer wieder zu sagen, dass der Schlüssel für die Lösung vieler Probleme, die wir heute haben, in der Investition in Bildung liegt. Mich emotionalisieren diese Momente auf der Bühne. Darum ist für mich jeder Abend neu und lebendig. Wenn ich diese einfachen Sätze
lese und mir vergegenwärtige, was für eine Dimension die Schule, das Lernen, das Lesen für diesen Jungen hatte, den es wirklich gegeben hat, der zu diesem Mann geworden ist: Wer den Wert von Bildung nicht begreift, der begreift gar nichts. Ein unverzichtbares Mittel, den Herausforderungen der Völkerwanderungen zu begegnen ist es, in Bildung zu investieren. Sonst fliegt uns in 20 Jahren unsere Gesellschaft um die Ohren.
Welche Position nehmen Sie persönlich ein, wenn es um Migranten und Flüchtlinge geht?
Bei aller Aktualität, was die Frage der Wichtigkeit von Bildung angeht, finde ich besonders berührend wenn Camus erzählt, wie er als Kind die bürgerliche Seite der Gesellschaft kennengelernt hat. Da gibt es Fotoalben, Andenken auf dem Dachboden, Verwandtschaft in Frankreich. „Bei uns dagegen war jedes Kind, das bei uns auf die Welt kommt, der erste Mensch“. Kinder ohne Vergangenheit. Weil es diese Referenz nicht gibt. Ich musste damals, als wir unseren Abend entwickelt haben, ständig an die Menschen denken, die uns in der Folge der Flüchtlingswelle erreicht haben. Menschen, denen nichts mehr geblieben war, außer dem, was sie tragen konnten. Schlimmer als die materielle Armut, ist wahr
die Auslöschung der Biografie. Sie hatten nicht einmal mehr eine Fotografie von ihrem Haus, und das Haus selbst gab es auch nicht mehr.
Erzählt wird die Lebensgeschichte des Sohnes einer Analphabetin auf dem Weg zum Literaturnobelpreisträger – da gibt es Parallelen zwischen Ihnen als Bergmannssohn, der zum erfolgreichem Schauspieler wird?
Mein Vater war Bergarbeiter, meine Mutter Hausfrau, wie es damals so üblich war. Wir wohnten in einer Bergarbeitersiedlung. Aber selbst dort gab es zwischen den sogenannten Angestellten und den Arbeitern sogar eine gewisse räumliche Trennung. Ich will jetzt nicht einen Bergarbeiterhaushalt der 60er Jahre mit einem Analphabetenhaushalt im Algerien der 20er Jahre vergleichen – aber diese Situation, in der der Lehrer beschließt, in diesen armen Frauenhaushalt zu gehen, um die Empfehlung auszusprechen, dass der Junge aufs Gymnasium soll – die hat es bei mir genau so gegeben. Da war die Stimme des Lehrers einfach lebensentscheidend für mich. Wie Camus dann beschreibt, wie er in diesen völlig anderen großbürgerlichen Kosmos eindringt – diese Empfindungen habe ich auch gehabt. Wir waren Exoten als Arbeiterkinder auf dem Gymnasium.
Karten unter 0361 / 2233155