Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Mozart und der Weltuntergang
Achim Lenz inszeniert „Die Zauberflöte“mit dem Repertoire des alten Endzeit-Kinos
Nordhausen. Tamino kriecht aus dem Kellerloch. „Zu Hilfe! zu Hilfe! sonst bin ich verloren“, singt er, wie üblich, während die Schlange übergroß von der Videowand zischelt. Doch irgendwie ist er es ja längst, so wie die ganze Welt um ihn herum, die nur noch eine Hintertür offen lässt: auf der Rückseite eines Backsteingebäudes, die wie die Brandmauer eines heruntergekommenen Theaters in einer heruntergekommenen Stadt wirkt.
Hier ist Leben kaum noch möglich. Soeben ging die letzte aller Grünpflanzen ein: als Projektion auf schwarzem Vorhang. Sie ließ ein Blatt nach dem anderen fallen. Das welkte nicht, das versank und entschwand einfach.
An der Ouvertüre, zu der es geschah, kann’s nicht gelegen haben. Das Loh-Orchester unter Michael Helmrath lässt bereits hier Mozarts Partitur kräftig aufblühen. Flüssiges Tempo, klare Struktur: So wird sich das fortsetzen. Mit viel Sinn für die sehr verschiedenen Stränge und Schichten der Komposition wird die Musik aus dem Graben gleichsam zum verlässlichen Leitstern in der Finsternis.
Ausgerechnet in der Woche, in der Wissenschaftler den Zeiger der „Weltuntergangsuhr“auf hundert Sekunden vor Zwölf vorrückten, bringt das Theater Nordhausen eine
„Zauberflöte“zur Premiere, in der es Dreizehn schlägt. Das Singspiel ereignet sich wahlweise unterirdisch oder extraterrestrisch, jedenfalls an Rückzugsorten nach der Katastrophe.
Eine zweite Menschwerdung
Sarastro erklärt uns später, „dass unsre heutige Versammlung eine der wichtigsten unsrer Zeit ist“. Es geht ums Überleben der Menschheit, gar um eine zweite Menschwerdung, neu geboren aus altem humanistischen Geist.
Auf diesem Weg plündert Regisseur Achim Lenz mit Ausstatterin Birte Wallbaum munter, aber nicht wahllos das Repertoire vornehmlich dystopischer Science-FictionMotive aus dem Endzeit-Kino der Achtziger und Neunziger. Das führt zu zugleich archaischen wie auch futuristischen Kostümen und Masken: wie man sich in jüngerer Vergangenheit eine Zukunft vorstellte, die zurück zu den Anfängen muss.
So verändert diese Inszenierung zwar Raum und Zeit der „Zauberflöte“. Für deren anspielungsreiche und in der Mitte kippende Geschichte bleibt das allerdings weitgehend folgenlos. Sie wird eher neu verortet als neu gedeutet.
Das folgt auf der Tamino-PaminaEbene, wie eh und je, mit gebrochenem heiligen Ernst und hinterfragender Heiterkeit, jenem aufklärerischen Initiationsritus, der dem
Menschen den Ausgang aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit weist. Papageno biegt indes mit Papagena vor-, vielleicht auch rechtzeitig ab ins bodenständige Glück, in dem ideales Leben ganz ohne Ideale auskommt.
Hier regiert der Kopf, dort der Bauch. Geistige versus körperliche Liebe. Es ist das Problem einer jeden „Zauberflöte“, dass deren Figuren zugleich Platzhalter für Prinzipien, aber auch Menschen aus Fleisch und Blut sind. Achim Lenz‘ Regie hat beides spielerisch im Blick. Und er setzt jede Figur der Selbstkritik ebenso wie der Selbstironie aus. Mehr kann man eigentlich nicht erwarten.
Selbstkritik und Selbstironie
Das vollzieht sich exemplarisch an Sarastro, den Michael Tews auch in den tiefsten seiner sonst wärmenden Basstöne alle Erhabenheit ironisch bricht. Aus dem strengen, aber gütigen Herrscher der Weisheit wird ein mit gedrechseltem rotbraunem Bart wie einem russischen Märchen entsprungener Skeptiker, der eher genervt die Augenbraue hebt, als dass er den Blick auf dem Geschehen ruhen lässt.
Dem gegenüber erleben wir die Königin der Nacht als Lack-und Leder-Lady. Wie die Chefin einer Rockerbande steigt SuJin Bae vom Motorrad, um ihre erste, leidende Arie klirren zu lassen, bevor ihr in den
Koloraturen der spitzen Rachearie der Erstickungstod droht.
Zusammen mit Marian Kalus, der als Monostatos eine an Klaus Kinski geschulte Selbstekel-Parodie auf Nosferatu und Rumpelstilzchen gibt, aber in seiner Außenseiter-Arie dumpf und artikulationsschwach wirkt, bildet das vergleichsweise den Schwachpunkt einer sonst sängerisch formidablen Aufführung.
Kyounghan Seo führt seinen Tamino mit Kraft, aber ohne Druck durchs lyrische Labyrinth der Gefühle, in dem ihm der helle und ausdrucksreiche Sopran von Amelie Petrichs Pamina auf Augenhöhe begegnet.
Philipp Frankes Papageno wird für den Abend zunehmend zum sängerischen, tänzerischen und spielerischen Gewinn. Insbesondere im zweiten Aufzug, der die unerträgliche Würde der Prüfungen mit einem Humor bricht, der im ersten allenfalls zu erahnen war, durchlebt er ein wildes Wechselbad der Gefühle.
Mitunter verspricht die optisch schrille und bunte Aufführung mehr, als sie szenisch einlöst. Dann gibt es zwar immer noch schöne, aber nicht allzu starke Bilder. Doch von Untergangsszenarien ist das Theater mit dieser „Zauberflöte“Lichtjahre weit entfernt.