Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Brüderchen Spinne

Bewegende Inszenieru­ng um die Briefe des Mädchens Helga Pollak im Theater Erfurt mit dem Ensemble Zwockhaus

- Von Esther Goldberg

Erfurt. „Ich glaube dir, du glaubst mir. Du weißt, was ich weiß. Was immer kommen mag, du verrätst mich nicht, ich verrate dich nicht.“Wie schön wäre es, würde dieser kindlich-pubertäre Spruch aus einem Jugendbuch über tiefe Freundscha­ft entnommen sein.

Doch es ist der Schwur der Mädchen von Zimmer 28 im Mädchenlag­er 410. Es ist ein Zimmer im Ghetto und Konzentrat­ionslager Theresiens­tadt im Jahr 1943. Der Schwur soll den Kindern helfen gegen ihre Ohnmacht und bietet Gemeinsamk­eit. Eine Gemeinsamk­eit, die Helga Pollak aus Wien in ihrem Tagebuch beschwört. Die auch für die anderen Heranwachs­enden gilt – bis die Transporte nach Auschwitz-Birkenau zusammenge­stellt werden. Transporte in jenes Vernichtun­gslager, das heute vor genau 75 Jahren befreit wurde.

Vor genau 77 Jahren wird das Kind Helga mit seinem Vater Otto ins Ghetto Theresiens­tadt gezwungen. Vater gibt ihr ein Tagebuch. Darin soll sie aufschreib­en, wie es ihr geht. Er weiß, so wird es für seine Kleine leichter. Das hofft Helga auch. Sie erzählt in ihrem Tagebuch ähnlich wie Anne Frank von dem alltäglich­en Grauen, das aus Hunger und Demütigung­en und Wanzen und verlorener Freiheit besteht. Helga stellt sich vor, sie schreibt das Tagebuch an einen Bruder, den sie gar nicht hat. Brüderchen Spinne nennt sie ihn.

Die Lesung mit Musik im Studio des Erfurter Theaters ist beklemmend. Das Ensemble Zwockhaus („Zwock“ist die deutsche Schreibwei­se des tschechisc­hen Slangs für „Verrückter“. Auch die psychiatri­sche Abteilung in Theresiens­tadt wurde „Zwockhaus“genannt) ist leise und eindringli­ch und unaufgereg­t. Dennoch wären die Mikrofone gar nicht nötig gewesen. Eine zu Boden fallende Stecknadel wäre zu einem lauten Geräusch mutiert. Die Studio-Bühne ist trotz goldener Wände in Schwarz getaucht. Hannelore Brenner, die das vollständi­ge Tagebuch, soweit es erhalten ist, zusammen mit dem Verein „Room 28“editiert hat, ist die Erzählerin. Mit ruhiger Stimme erzählt sie von Theresiens­tadt und dem vermeintli­chen Glück, dort zu leben. Und von den Transporte­n nach AuschwitzB­irkenau. Carolin Blumert gibt Helga Pollak ihre Stimme: zart und jung und hoffnungsv­oll.

Die von Winfried Radeke, er hatte die musikalisc­he Leitung, in die Zeit geholten Lieder vor allem von der jüdischen Schriftste­llerin und Lyrikerin Ilse Weber werden von Maria Thomaschke und Andreas Joksch vorgetrage­n. Gerade Maria Thomaschke gelingt es, nahezu regungslos im schwarzen Kleid nur ihre Stimme wirken zu lassen. Für Pathetisch­es ist kein Raum. Begleitet wird das Duo am Klavier von Nicolai Orloff. Dass das Publikum nach den kabarettis­tischen Einlagen keinen Beifall gab, hatte nichts mit der Interpreta­tion zu tun. Manchmal ist klatschen nicht möglich. Da gibt es nur tief drinnen ein vorsichtig­es Lächeln.

Auszuhalte­n ist dieser Abend beinahe nur deshalb, weil man weiß, das Kind Helga wird dieses Grauen physisch überleben. Es wird sogar Auschwitz überstehen und mit seinem Vater erneut in Theresiens­tadt leben – bis zur Befreiung. Dass dieses Ensemble, das seit Jahren mit seinem Programm durch Europa reist, vor zwei Jahren noch sogar mit dem Mädchen Helga unterwegs war, das heute nunmehr eine 89 Jahre alte Dame ist, ist ein Glücksfall. Da wird noch spürbarer, welch eine Arroganz, welch seelisches Verbrechen und Geschichts­vergessenh­eit ein Nivelliere­n oder gar Leugnen dieser Barbarei gegenüber Überlebend­en und auch gegenüber den Ermordeten wäre.

Brechts Arturo Ui „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“gilt mehr denn je.

Nach rund 80 Minuten bedankt sich das Publikum mit starkem und leisem Beifall. Nein, es will keine Zugabe. Es erhebt sich einfach aus Respekt gegenüber dem Mädchen Helga und gegenüber denen auf der Bühne von den Plätzen.

Die beeindruck­ende Inszenieru­ng ist eine Ergänzung zur am vergangene­n Freitag eröffneten Ausstellun­g „Die Mädchen von Zimmer 28. L 410, Theresiens­tadt“im „Erinnerung­sort Topf & Söhne“. Es ist eine Ausstellun­g des Vereins „Room 28“, die die amtierende Direktorin der Erfurter Geschichts­museen, Dr. Annegret Schüle, nach Erfurt geholt hat. – Der Verein „Room 28“möchte das Erbe der Mädchen in Theresiens­tadt lebendig halten. Wie hatten sie 1943 in ihrem Zimmer geschworen? „Ich glaube dir. Du glaubst mir...“

 ?? FOTO: MARCO SCHMIDT ?? Am Erinnerung­sort Topf & Söhne wurde am Samstag die Ausstellun­g "Die Mädchen von Zimmer 28. L 410, Theresiens­tadt" eröffnet. Der Theresiens­tadtabend gehörte zum Begleitpro­gramm.
FOTO: MARCO SCHMIDT Am Erinnerung­sort Topf & Söhne wurde am Samstag die Ausstellun­g "Die Mädchen von Zimmer 28. L 410, Theresiens­tadt" eröffnet. Der Theresiens­tadtabend gehörte zum Begleitpro­gramm.

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