Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Mexikos verlorener Kampf
Mehr als 35.000 Morde in einem Jahr: Die Gewalt in dem Land eskaliert. Der Staat ist gegen die Mafia machtlos
Mexiko-Stadt. Es sind Gewalttaten wie diese, die die Welt entsetzt aufhorchen lassen: Bei einem Massaker an einer Partygemeinde in Veracruz sterben 14 Menschen, darunter ein Baby. Überall im Land werden Bürgermeister und Journalisten niedergemetzelt, in den beliebten Ausgehvierteln von MexikoStadt liefern sich Kriminelle Schießereien auf offener Straße. Täter verscharren ihre Opfer in Massengräbern oder lösen sie in Säure auf. Nicht selten werden an Landstraßen Plastiktüten gefunden – darin Leichenteile.
Solche Verbrechen trugen 2019 zu der Horrorstatistik bei, die Mexikos Sicherheitsbehörden nun veröffentlicht haben. Demnach wurden
35.588 Menschen ermordet, das heißt annähernd 100 Opfer pro Tag. „Hier werden pro Jahr mehr Menschen getötet als in allen Staaten Europas zusammen“, sagt der mexikanische Kriminalitätsexperte Alejandro Hope. Die Morde haben seit
2006 dramatisch zugenommen, nachdem die damalige Regierung eine Militäroffensive begann, mit
der sie das organisierte Verbrechen niederringen wollte. Das ernüchternde Ergebnis: 275.000 Tote seither, die Gewalt eskalierte. Die Kartelle aber sind kaum geschwächt worden.
Nie wurden in dem 130-Millionen-Einwohner-Land so viele Menschen umgebracht wie 2019. Die Statistik erinnert an ein Land im Bürgerkrieg. Teile Mexikos werden vom organisierten Verbrechen kontrolliert. Kartelle wie das Sinaloa-Syndikat des berüchtigten, in den USA inhaftierten Drogenbosses Joaquín „El Chapo“Guzmán
(62) oder das besonders blutrünstige Kartell Jalisco Nueva Generación (CJNG) haben den Staat als Ordwalttaten nungsmacht verdrängt. Das CJNG stellte seine Brutalität im August eindrucksvoll zur Schau – da wurden an einer Hauptstraße der Stadt Uruapan im Zentrum des Landes die Überreste von 19 Menschen entdeckt. Sechs Leichen baumelten an Stricken von einer Brücke – als Warnung, sich nicht mit einem verfeindeten Kartell einzulassen.
Die vielen Morde schwächen Mexikos Staatschef Andrés Manuel López Obrador. Der 66-Jährige amtiert seit gut einem Jahr und hatte der Bevölkerung im Wahlkampf eine schnelle Reduzierung der Ge
versprochen. Der Linkspräsident rückte von der militärischen Konfrontation als Allheilmittel ab, baute mit der Nationalgarde eine neue Truppe auf und schuf mit Teilamnestien und Stipendien für Jugendliche andere, präventive Ansätze.
Die Regierung hat ein Machtvakuum geschaffen
Die Strategie kann jedoch bestenfalls langfristig Erfolg zeitigen, zumal die Nationalgarde zu einem großen Teil an Mexikos Grenzen im Einsatz ist, um auf Druck der USRegierung mittelamerikanische Migranten auf dem Weg in das nördliche Nachbarland aufzuhalten. Kurzfristig hat die neue Politik in manchen Gegenden dagegen ein Machtvakuum geschaffen, das die Mafias rasch füllten.
„López Obrador glaubt, allein durch seine Präsidentschaft würden sich die Dinge ändern“, kritisiert der Kriminalitätsexperte Edgardo Buscaglia. „Aber weder das allein noch die Sozialprogramme helfen, die Unterwanderung des Staates durch das organisierte Verbrechen zu bekämpfen.“