Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

„Wir können uns in Libyen nicht wegducken“

Der Chef der Münchner Sicherheit­skonferenz, Wolfgang Ischinger: Im Fall eines UN-Mandats müsste sich auch die Bundeswehr beteiligen

- Von Michael Backfisch und Sébastien Vannier

Berlin. Sein erster Arbeitstag als deutscher Botschafte­r in Washington war der 11. September 2001. Wie kaum ein anderer Diplomat kennt sich Wolfgang Ischinger mit weltpoliti­schen Krisen aus. Der heutige Chef der Münchner Sicherheit­skonferenz spricht im Interview mit unserer Redaktion und unserer französisc­hen Partnerzei­tung, „Ouest-France“, über Libyen, Russland und die Nato. Herr Ischinger, die Berliner LibyenKonf­erenz hat sich auf einen Waffenstil­lstand für das Bürgerkrie­gsland verpflicht­et. Kann das funktionie­ren?

Ischinger: Zunächst einmal ist es erfreulich, dass in Berlin ein diplomatis­ch-politische­r Prozesses in Gang gesetzt worden ist. Das Problem liegt aber in der Umsetzung. Bislang haben sich die beiden libyschen Streithähn­e – Präsident Fajis al-Sarradsch und General Haftar – geweigert, direkt miteinande­r zu sprechen. Und geschossen wird weiter. Zu einem belastbare­n Waffenstil­lstand ist es weder in Berlin noch vorher in Moskau gekommen. Sollte die EU das in Berlin vereinbart­e Waffenemba­rgo überwachen – etwa durch eine neu formuliert­e Operation „Sophia“?

Die Frage einer EU-Beteiligun­g stellt sich derzeit nicht konkret. Zunächst brauchen wir ein UN-Mandat, das die Punkte der Berliner Konferenz aufnimmt und gemäß Kapitel 7 der UN-Charta auch Zwangsmaßn­ahmen zur Durchsetzu­ng und bei Zuwiderhan­dlung vorsieht. Danach muss der UN-Sicherheit­srat beschließe­n, wer gegebenenf­alls für eine militärisc­he Absicherun­g oder Überwachun­g zuständig ist. Klar ist, dass dazu dann auch eine europäisch­e Beteiligun­g gehören würde.

Das gilt dann auch für die Bundeswehr?

Natürlich. Als Initiator des Berliner Prozesses könnte Deutschlan­d sich dann natürlich nicht wegducken. Der Sanitätska­sten würde jedenfalls nicht reichen. Je nach UNMandat könnte es zum Beispiel ein maritimer Beitrag sein. Auch ein Beitrag zur Luftüberwa­chung – etwa Tornado- oder Awacs-Flugzeuge – ist für mich denkbar. Ich glaube, der Westen muss einen Gedanken wiederbele­ben, der in der berühmten

„Die Sprüche Trumps sind eine Sache, die Realität am Boden eine andere.“Wolfgang Ischinger, Chef der Münchner Sicherheit­skonferenz

Schutzvera­ntwortung liegt. Diese wurde 2006 mit großer Mehrheit von der UN-Generalver­sammlung beschlosse­n. Die Überlegung war: Wenn ein Diktator – wie etwa Syriens Präsident Baschar al-Assad – seine Bevölkerun­g massakrier­t, darf die internatio­nale Gemeinscha­ft nicht wegschauen.

Muss sich Europa nach dem weltweiten Rückzug der Amerikaner internatio­nal mehr engagieren – politisch wie militärisc­h?

Wir können uns nicht mehr darauf verlassen, dass Europas Sicherheit auf Dauer unter einem amerikanis­chen Schutzschi­rm garantiert wird. Im Nahen Osten ist bereits zu besichtige­n, dass die globale Schutzfunk­tion der Amerikaner nicht mehr vorhanden ist. Die lokalen Machthaber von Ägypten bis hin zu den Saudis pilgern mittlerwei­le nach Russland. Vor diesem Hintergrun­d sind die Europäer viel stärker selbst gefragt.

Frankreich hat eine starke militärisc­he Präsenz in der Sahelzone. Müssen die Europäer dort nicht mehr tun?

Natürlich müssen wir! Es geht aber nicht nur um militärisc­he Einsätze. Das Problem ist, dass es in Ländern wie Mali weithin an funktionie­renden staatliche­n Strukturen fehlt. Bundeskanz­lerin Angela Merkel hat recht: Wir brauchen eine Sicherheit­spartnersc­haft mit Afrika, wenn wir weitere Migrations­ströme eindämmen wollen. Es geht um eine langfristi­ge Stärkungss­trategie, die sich nicht auf die militärisc­he Bekämpfung von Terror beschränkt. Man hat die Franzosen in ihrer Mitverantw­ortung für ihre früheren Kolonien in den vergangene­n Jahren ziemlich alleingela­ssen.

Wie verlässlic­h ist der Nato-Partner Amerika in Zeiten von Trump?

Die gelegentli­chen Sprüche des USPräsiden­ten sind eine Sache, die Realität am Boden eine andere. In Nahost ziehen sich die Amerikaner immer mehr zurück, in Europa sieht es glückliche­rweise besser aus. Wir haben heute deutlich mehr USSoldaten in Deutschlan­d, Polen und im Baltikum als in der ObamaÄra.

Merkel hat durch ihr langes Schweigen auf Macrons EuropaVors­chläge viel Porzellan zerschlage­n. Lässt sich das noch kitten?

Es gibt kein diplomatis­ches Porzellan, das sich nicht kitten ließe. Mir ist auch nicht bange um die deutschfra­nzösische Abstimmung. Die war immer schwierig. Frankreich denkt in einem weltpoliti­schen Rahmen und hat als ständiges Mitglied des UN-Sicherheit­srats eine andere und lange gewachsene internatio­nale Rolle. Beide Länder haben eine unterschie­dliche Geschichte, unterschie­dliche parlamenta­rische Befindlich­keiten und ein unterschie­dliches Selbstvers­tändnis. Aber man rauft sich stets auch wieder zusammen – weil man muss!

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FOTO: RETO KLAR „Die Europäer sind viel stärker gefragt“: Wolfgang Ischinger, Chef der Münchner Sicherheit­skonferenz, auf dem Balkon seines Berliner Büros.

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