Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
„Wir können uns in Libyen nicht wegducken“
Der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger: Im Fall eines UN-Mandats müsste sich auch die Bundeswehr beteiligen
Berlin. Sein erster Arbeitstag als deutscher Botschafter in Washington war der 11. September 2001. Wie kaum ein anderer Diplomat kennt sich Wolfgang Ischinger mit weltpolitischen Krisen aus. Der heutige Chef der Münchner Sicherheitskonferenz spricht im Interview mit unserer Redaktion und unserer französischen Partnerzeitung, „Ouest-France“, über Libyen, Russland und die Nato. Herr Ischinger, die Berliner LibyenKonferenz hat sich auf einen Waffenstillstand für das Bürgerkriegsland verpflichtet. Kann das funktionieren?
Ischinger: Zunächst einmal ist es erfreulich, dass in Berlin ein diplomatisch-politischer Prozesses in Gang gesetzt worden ist. Das Problem liegt aber in der Umsetzung. Bislang haben sich die beiden libyschen Streithähne – Präsident Fajis al-Sarradsch und General Haftar – geweigert, direkt miteinander zu sprechen. Und geschossen wird weiter. Zu einem belastbaren Waffenstillstand ist es weder in Berlin noch vorher in Moskau gekommen. Sollte die EU das in Berlin vereinbarte Waffenembargo überwachen – etwa durch eine neu formulierte Operation „Sophia“?
Die Frage einer EU-Beteiligung stellt sich derzeit nicht konkret. Zunächst brauchen wir ein UN-Mandat, das die Punkte der Berliner Konferenz aufnimmt und gemäß Kapitel 7 der UN-Charta auch Zwangsmaßnahmen zur Durchsetzung und bei Zuwiderhandlung vorsieht. Danach muss der UN-Sicherheitsrat beschließen, wer gegebenenfalls für eine militärische Absicherung oder Überwachung zuständig ist. Klar ist, dass dazu dann auch eine europäische Beteiligung gehören würde.
Das gilt dann auch für die Bundeswehr?
Natürlich. Als Initiator des Berliner Prozesses könnte Deutschland sich dann natürlich nicht wegducken. Der Sanitätskasten würde jedenfalls nicht reichen. Je nach UNMandat könnte es zum Beispiel ein maritimer Beitrag sein. Auch ein Beitrag zur Luftüberwachung – etwa Tornado- oder Awacs-Flugzeuge – ist für mich denkbar. Ich glaube, der Westen muss einen Gedanken wiederbeleben, der in der berühmten
„Die Sprüche Trumps sind eine Sache, die Realität am Boden eine andere.“Wolfgang Ischinger, Chef der Münchner Sicherheitskonferenz
Schutzverantwortung liegt. Diese wurde 2006 mit großer Mehrheit von der UN-Generalversammlung beschlossen. Die Überlegung war: Wenn ein Diktator – wie etwa Syriens Präsident Baschar al-Assad – seine Bevölkerung massakriert, darf die internationale Gemeinschaft nicht wegschauen.
Muss sich Europa nach dem weltweiten Rückzug der Amerikaner international mehr engagieren – politisch wie militärisch?
Wir können uns nicht mehr darauf verlassen, dass Europas Sicherheit auf Dauer unter einem amerikanischen Schutzschirm garantiert wird. Im Nahen Osten ist bereits zu besichtigen, dass die globale Schutzfunktion der Amerikaner nicht mehr vorhanden ist. Die lokalen Machthaber von Ägypten bis hin zu den Saudis pilgern mittlerweile nach Russland. Vor diesem Hintergrund sind die Europäer viel stärker selbst gefragt.
Frankreich hat eine starke militärische Präsenz in der Sahelzone. Müssen die Europäer dort nicht mehr tun?
Natürlich müssen wir! Es geht aber nicht nur um militärische Einsätze. Das Problem ist, dass es in Ländern wie Mali weithin an funktionierenden staatlichen Strukturen fehlt. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat recht: Wir brauchen eine Sicherheitspartnerschaft mit Afrika, wenn wir weitere Migrationsströme eindämmen wollen. Es geht um eine langfristige Stärkungsstrategie, die sich nicht auf die militärische Bekämpfung von Terror beschränkt. Man hat die Franzosen in ihrer Mitverantwortung für ihre früheren Kolonien in den vergangenen Jahren ziemlich alleingelassen.
Wie verlässlich ist der Nato-Partner Amerika in Zeiten von Trump?
Die gelegentlichen Sprüche des USPräsidenten sind eine Sache, die Realität am Boden eine andere. In Nahost ziehen sich die Amerikaner immer mehr zurück, in Europa sieht es glücklicherweise besser aus. Wir haben heute deutlich mehr USSoldaten in Deutschland, Polen und im Baltikum als in der ObamaÄra.
Merkel hat durch ihr langes Schweigen auf Macrons EuropaVorschläge viel Porzellan zerschlagen. Lässt sich das noch kitten?
Es gibt kein diplomatisches Porzellan, das sich nicht kitten ließe. Mir ist auch nicht bange um die deutschfranzösische Abstimmung. Die war immer schwierig. Frankreich denkt in einem weltpolitischen Rahmen und hat als ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats eine andere und lange gewachsene internationale Rolle. Beide Länder haben eine unterschiedliche Geschichte, unterschiedliche parlamentarische Befindlichkeiten und ein unterschiedliches Selbstverständnis. Aber man rauft sich stets auch wieder zusammen – weil man muss!