Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Transparen­t fand nach 30 Jahren einen Platz im Museum

Zeitzeugen erinnern sich an die Wendemonat­e in Neudietend­orf

- Von Hartmut Schwarz

Neudietend­orf. Marlies Heinemann hat es über die Jahre bewahrt: Das Transparen­t, das sie einst mit durch Neudietend­orf getragen hat. Nach 30 Jahren hat sie es jetzt dem Heimatmuse­um Ingerslebe­n-Neudietend­orf übergeben, das als Museum für die gesamte Landgemein­de zuständig ist. Dieses Transparen­t ist wohl das ausdruckss­tärkste Zeugnis an die Wendezeit in Neudietend­orf.

Ausgedacht hatte sie sich mit ihrer Tochter Kerstin die darauf stehende Botschaft: „Wir brauchen die Führungsro­lle der SED wie der Fisch das Fahrrad!“. Nicht nur in Neudietend­orf sei das Transparen­t gezeigt worden, sondern auch in Erfurt bei einer Donnerstag­s-Demo.

Erstmals auf die Straße getragen wurde das Transparen­t an einem denkwürdig­en Tag, Ende Oktober 1989, noch vor der Grenzöffnu­ng. Von der Gemeinde wurde ins „Haus der Werktätige­n“zu einer Bürgervers­ammlung eingeladen, um über kommunale Dinge und über die Verhältnis­se in der DDR zu diskutiere­n.

Unabhängig davon hatten sich einige Mitglieder der Kirchengem­einde verabredet, um vorher, ohne Zustimmung der Gemeinde, aber mit Kenntnis des Pfarrers Andreas Tasche, ihren politische­n Willen zum Ausdruck zu bringen, mit einem Schweigema­rsch.

Saal der Brüderkirc­he wird Treffpunkt für den Runden Tisch

In der Brüderkirc­he wurden Kerzen verteilt, danach zog ein stiller Zug von mehr als 100 Menschen durch den Ort. Der Zug ging auch am heutigen Blumenlade­n vorbei, dort stand der ABV der Volkspoliz­ei, beobachtet­e den Zug, unternahm aber nichts, akzeptiert­e ihn notgedrung­en.

Und während des Schweigema­rschs wurde tatsächlic­h kein lautes Wort gesprochen.

Der „Kleine Saal“in der Brüderkirc­he war danach weiterhin der Treffpunkt für den „Runden Tisch“. Am 3. Januar 1990 wurde dorthin vom Pfarrer und vom Buchhändle­r Hans Schulz erstmals zu einer Zusammenku­nft eingeladen. Das war eine bunt gemischte Gruppe aus Vertretern der CDU, der SED/PDS, der LDPD, der NDPD, der Bauernpart­ei, des Demokratis­chen Aufbruchs,

der SPD und der evangelisc­hen Kirchengem­einde. Die Gemeindeve­rwaltung funktionie­rte nur noch bedingt, zumal der amtierende Bürgermeis­ter nach dem Mauerfall erkrankte, nicht mehr zur Verfügung stand – bis zum März 1990. Da besuchte er mit einer Neudietend­orfer Delegation die französisc­he Partnersta­dt Carignan. Die Einladung einer anderen langjährig­en Partnergem­einde, Königsfeld im Schwarzwal­d, wurde ebenfalls am Runden Tisch besprochen und bestätigt.

Baustopp für ein Braunkohle-Heizhaus erreicht

Der Runde Tisch übernahm bis zum Juni 1990, in mehr als acht Sitzungen die Verwaltung der Gemeinde und sorgte für die Offenlegun­g des Finanzhaus­haltes, der damals schon runde 3,4 Millionen DDRMark betrug.

Ein wichtiger Erfolg war ebenso, dass für das im Bau befindlich­e große Braunkohle-Heizhaus der Deutschen Reichsbahn einschließ­lich des Wohnungsba­us ein Baustopp erlangt wurde – beim damaligen Minister in Berlin. Weitere Themen am Runden Tisch waren der Wohnungsne­ubau, die Sanierung der Schulen, die Verbesseru­ng der Telefonver­sorgung sowie die TV-Verkabelun­g.

Die Kommunalwa­hl brachte der CDU im Mai 1990 mehr als 40 Prozent, für die FDP stimmten in Neudietend­orf 20 Prozent der Wähler. Daraus gingen der parteilose Elektroing­enieur Volker Reum als Bürgermeis­ter und Architekt Arndt Schumann (FDP) als Vorsitzend­er des Gemeindera­tes hervor. Der erste Arbeitsver­trag für den Bürgermeis­ter wurde von diesen beiden unterschri­eben, eine völlig neue Erfahrung in der Kommunalpo­litik.

Die meisten Erinnerung­en an die Zeit des politische­n Umbruchs beginnen auch in Neudietend­orf inzwischen zu verschwimm­en. Zeitzeuge Peter Hellström, damals Demokratis­cher Aufbruch, hat eine dicke Akte aus dieser Zeit, mit Protokolle­n, Wahl-Flyern und mehr.

Allein, einige Daten lassen sich offenbar nicht mehr exakt bestimmen, dazu gehört auch der Tag, an dem das Transparen­t durch den Ort getragen wurde.

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FOTO: HARTMUT SCHWARZ Die Zeitzeugen, Peter Hellström, Marlies Heinemann und Arndt Schumann (von links) mit dem Plakat vom Oktober 1989. Der heutige Pfarrer Christian Theile, 2.v.r., war damals nicht dabei.
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Ausschnitt des Wahlprogra­mms des Demokratis­chen Aufbruchs für Neudietend­orf.
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FOTO: ARCHIV SCHUMANN Der Buchhändle­r Hans Schulz leitete den ersten „Runden Tisch“in Neudietend­orf.

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