Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Klare Haltung zeigen
Zu Antisemitismus in Deutschland:
Was für eine Schande, dass solche Kräfte wieder ihr Haupt erheben gegen Menschen anderen Glaubens, anderer Mentalität. Allein 15.000 Juden aus meiner Heimatstadt in Polen wurden nach Treblinka in den Tod getrieben. 200 waren übrig geblieben. Als sie Ende des Krieges in ihre Wohnungen zurückkehrten, wurden sie von den Polen erneut vertrieben.
Was waren die Juden wirklich? In den Großstädten gab es die reicheren Geschäftsleute, Anwälte, Ärzte, Apotheker, Handwerksmeister und einige reiche Fabrikanten, aber es gab auch Juden, die in bitterer Armut lebten. Und es gab die weniger gläubigen Juden und die strenggläubigen orthodoxen Juden in den langen, schwarzen Kaftanen, mit den langen Bärten und Schläfenlocken, die eifrig im Talmud lasen, ihre Sitten, Riten und Gebräuche pflegten, die den Protestanten und Katholiken fremd und unverständlich waren. Und es gab die ärmere Schicht in den Städten, die einfachen Arbeiter, Schreibkräfte und Angestellten. Im eigentlichen Sinne waren sie Menschen wie du und ich, mit Stärken und Schwächen, mit Vorzügen, aber auch mit Nachteilen wie es sie unter allen Völkern gibt. Allen gemeinsam aber war, dass sie einen engen Zusammenhalt pflegten. Der pauschale Begriff Jude hatte unter vielen Völkern zu Unrecht einen faden Beigeschmack. Die Christen bezichtigten sie des Jesusmords. Aber das geschah vor über 2000 Jahren. Letztlich haben sie den Messias doch nur ausgeliefert. Ans Kreuz geschlagen haben ihn die Römer. Die Juden, seit mehr als 200 Jahren aus Deutschland in den Osten ausgewandert, waren Träger der deutschen Kultur, pflegten die deutsche Sprache, das Mittelhochdeutsche, waren deutschfreundlich eingestellt. Schon im 15. Jahrhundert, nachdem die Juden nach grausamen Verfolgungen des Jahres 1348/49, von den deutschen Fürsten und Städten zurückgerufen worden waren und sich in ihren früheren Wohnsitzen wieder niederließen, waren sie nach wie vor schutzlos
Wortlaut und geächtet. Was war in den Jahren von 1348 bis 1350 geschehen?Als die unter dem Namen „Der schwarze Tod“bekannte furchtbare Pest von Asien her über alle Länder Europas dahergezogen kam, wurde überall die Beschuldigung laut: Die Juden hätten die Brunnen, ja sogar den Rhein und die Donau vergiftet. Dieser Wahn wurde geglaubt und zwar umso mehr, als die Juden infolge ihrer durch die Religionsgesetze bedingten Mäßigkeit und Enthaltsamkeit weniger von der Seuche heimgesucht wurden, als die einheimischen Bayern, Franken, Thüringer und auch Eichsfelder. Zu Tausenden wurden die Juden erschlagen, verbrannt, ertränkt, zu Tausenden starben sie auf der Flucht vor Hunger. Wer kann die Gemeinden aufzählen, die dem Aberglauben und der Volkswut zum Opfer fielen? Nicht nur das einfache Volk, auch die Gebildeteren glaubten die Schauermär. Deutsche Ratsherren ließen die Brunnen vermauern, weil sie vergiftet sein sollten. Ein Straßburger Chronist vermerkt aus dieser Zeit: „Ihr bares Gut war in Wahrheit das Gift, das die Juden tötete.“Die Juden waren bis 1350 in Deutschland fast völlig ausgerottet worden. Die Städte und Landesherren teilten sich in die Beute, die sie den Juden abgenommen hatten, der Kaiser verzieh all diese Untaten. Bald aber sah man ein, dass man die Juden nicht entbehren konnte. Eine ergiebige Einnahmequelle war versiegt. Auch der Handel stockte, seitdem die betriebsamen Juden fehlten. Man öffnete ihnen wieder die Tore, und es entstanden wieder jüdische Gemeinden.
Müssen wir diese Menschen, deren Vorfahren unter den Nazis litten, gegenwärtig nicht erst recht achten und in Deutschland willkommen heißen? Mich stört die Kippa nicht, ebenso das Kopftuch. Vordringlichste Aufgabe für uns Deutsche ist: Dem Antisemitismus energisch die Stirn zu bieten und diesen Menschen mit Höflichkeit, Achtung und Toleranz zu begegnen.
Gottfried Kunkel, Gerterode
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