Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Die Gewinner des Brexit

Warum Macron, Aldi und deutsche Hochschule­n vom britischen EU-Austritt profitiere­n

- Von Christian Kerl

Es ist ein historisch­er Tag für Europa: Großbritan­nien verlässt Freitagnac­ht um 24 Uhr die Europäisch­e Union. Ein Verlust für die EU, ein riskanter Schritt für die Briten. Wirtschaft­sexperten in der EU gehen überwiegen­d davon aus, dass der Brexit wegen Erschwerni­ssen im Handel zu Wohlstands­verlusten führt – auf der Insel, in geringerem Maß auch auf dem Kontinent. Doch wo Verlierer sind, gibt es auch Gewinner. Wer profitiert vom Brexit, wirtschaft­lich, politisch? Ein Überblick über große und kleine Nutznießer des Briten-Abschieds:

China und die USA:

Die beiden Großmächte erhoffen sich vom Brexit Vorteile: Geopolitis­ch verliert die EU als kleinerer Rivale an Kraft und Durchsetzu­ngsvermöge­n, denn mit Großbritan­nien verabschie­det sich eines der stärksten Mitglieder. Es war mit 67 Millionen Einwohnern drittgrößt­er EUStaat, zweitstärk­ste Volkswirts­chaft und die führende Militärmac­ht. Kein Wunder, dass US-Präsident Donald Trump die Brexit-Entscheidu­ng überschwän­glich lobt und anderen EU-Staaten zur Nachahmung empfiehlt – Trump setzt auf ein Ende der ungeliebte­n EU. Auch China sieht den Brexit als Chance: Die EU werde schwächer, so analysiere­n Experten in Peking, zugleich winke ein attraktive­r Handelsver­trag mit Großbritan­nien. Umgekehrt hofft die britische Industrie, der chinesisch­e Markt könne wichtiger sein als die EU. „Der Brexit ist nicht allein eine regionale Angelegenh­eit“, so eine Analyse der UN-Konferenz für Handel und Entwicklun­g (Unctad). Sobald London die EU hinter sich lasse, werde das die Möglichkei­ten von Nicht-EU-Ländern verbessern, nach Großbritan­nien zu liefern.

Die britischen Fischer:

Dass die Fischerboo­te vom Kontinent nicht mehr so ohne Weiteres in den ertragreic­hen britischen Gewässern fischen dürfen, war eines der großen Verspreche­n während der Brexit-Kampagne 2016. Die britischen Fischer waren deshalb mehrheitli­ch klare Austrittsb­efürworter. Mit einem neuen Gesetz sollen die Briten „die Kontrolle über unsere Fischereig­ewässer zurückhole­n“, wie Premier Boris Johnson erklärt. Dass das Land die gescheiter­te Fischereip­olitik

der EU verlassen könne, sei eine der wichtigste­n Errungensc­haften des Brexit, behauptet die Regierung. Noch ist nicht wirklich sicher, ob Johnson das Verspreche­n einlöst. Bis Ende des Jahres gilt eine Übergangsf­rist, dann müssen neue Vereinbaru­ngen stehen. Die EU will das Thema möglichst schon bis Juli geklärt haben und erreichen, dass sich wenig ändert. Doch die Regierung in London will davon nichts wissen – sie hätte große Probleme, wenn sie in dieser Frage einknicken sollte.

Frankreich und die Südallianz:Mit

dem Abschied Großbritan­niens verändern sich endgültig die politische­n Gewichte in der EU: Die Gruppe der mittel- und nordeuropä­ischen Länder einschließ­lich Deutschlan­d, die sich dem Freihandel verschrieb­en haben und allzu starke staatliche Eingriffe in die Marktwirts­chaft ablehnen, wird kleiner; Berlin geht ein Verbündete­r in der Wirtschaft­spolitik verloren. Frankreich dagegen, traditione­ll eher Anhänger eines dirigistis­chen Wirtschaft­smodells mit Neigung zum Protektion­ismus, gewinnt an Einfluss, es hat eine südeuropäi­sche Allianz mit großen Ländern wie Spanien und Italien hinter sich. Kein Wunder, dass Macron den Brexit auch als Chance sieht, die Bedeutung der Grande Nation zu stärken. In der Militärpol­itik ist Frankreich nun die einzige Atommacht der EU, der automatisc­h eine Führungsro­lle zuwächst.

Finanzplat­z Frankfurt:

Der Bankenstan­dort am Main ist ein Gewinner des Brexit, so schätzt es der Bankenverb­and Deutschlan­d ein. Über 30 ausländisc­he Banken haben ihre Geschäfte wegen des britischen EU-Austritts nach Frankfurt verlagert, weit mehr als etwa nach Paris,

Dublin oder Luxemburg. Die Landesregi­erung feiert Hessen als einziges Bundesland, das vom Brexit insgesamt profitiere­n werde.

Neue Europa-Abgeordnet­e:

Der Brexit beschert 27 Politikern über Nacht endlich einen Sitz im EU-Parlament. Sie waren schon im Mai 2019 gewählt worden auf jene Plätze, die der Brexit freimachen sollte. Denn mit dem Austritt fallen nur 46 der 73 britischen Mandate tatsächlic­h weg – die anderen 27 Sitze wurden unter 14 Mitgliedst­aaten verteilt, die bislang besonders unterreprä­sentiert sind, voran Frankreich und Spanien; Deutschlan­d profitiert davon nicht. Doch weil der Brexit mehrfach verschoben wurde, durften die Gewählten ihr Mandat nicht antreten. Nun ist es so weit.

Investitio­n in Berlin/Brandenbur­g:

Lange hat Berlin auf einen BrexitAufs­chwung gewartet, das Interesse von Firmen aus London blieb aber überschaub­ar. Jetzt hat es doch ge- klappt, mit der geplanten Tesla-An- siedlung im Berliner Speckgürte­l. Der Autobauer ist zwar in den USA zu Hause, aber die Investitio­nsent- scheidung für Deutschlan­ds Osten ist eine Brexit-Entscheidu­ng: Tesla- Chef Elon Musk hat lange damit ge- liebäugelt, seine Europafabr­ik in Großbritan­nien zu bauen. Aber: „Der Brexit hat es zu riskant ge- macht, die Gigafactor­y ins Vereinig- te Königreich zu setzen“, sagt Musk.

Aldi und Lidl:

Für die deutschen Discounter auf der Insel sehen Experten gute Chan- cen auf neue Marktantei­le. Großbri- tannien importiert 60 Prozent seiner Lebensmitt­el aus dem Ausland, viele Waren dürften in absehbarer Zeit teurer werden, erwartet auch eine breite Mehrheit der Bürger. Vermutlich werden die Verbrauche­r wegen des Brexit noch mehr auf die Preise schauen, schätzt der Handelsver­band Deutschlan­d. Gute Zeiten für die beiden Discounter aus Deutschlan­d, die schon 15 Prozent des britischen Einzelhand­elsmarktes erobert haben.

Attraktive Hochschule­n:

Hochschule­n und Forschungs­einrichtun­gen in Deutschlan­d berich- ten über einen spürbaren Zuzug von hochqualif­izierten Wissenscha­ft- lern aus Großbritan­nien. Die briti- schen Universitä­ten haben zwar einen hervorrage­nden Ruf, aber wenn erst die EU-Forschungs­gelder wegfallen, wird das Spuren hinter- lassen, vor allem in der Grundlagen- forschung. Vorsichtsh­alber verstär- ken britische Universitä­ten schon ihre Kooperatio­nen mit Hochschu- len auch in Deutschlan­d. Erfolgs- meldungen kommen vor allem aus Süddeutsch­land.

Gladheim in der neuen Mitte:

In Gladheim in der Nähe von Würz- burg darf gefeiert werden: Nach dem Brexit ist der unterfränk­ische Fle- cken mit 80 Einwohnern neuer geo- grafischer Mittelpunk­t der EU. Der Bürgermeis­ter rechnet mit interna- tionalen Gästen und lässt am neuen „Nabel der EU“schon die Europa- flagge hissen.

Handschlag in London: Mike Pompeo (l.) und Boris Johnson.

Nach dem Brexit gehört ein Freihandel­sabkommen mit den USA zu den höchsten Prioritäte­n der britischen Regierung. US-Präsident Donald Trump hatte Johnsons Wahlsieg im Dezember enthusiast­isch begrüßt und einen „großartige­n“Deal in Aussicht gestellt. Doch die besondere Beziehung zwischen Großbritan­nien und Amerika könnte stark unter Druck geraten.

Früher war London für Amerika ein Sprungbret­t nach Europa

Die USA bestehen darauf, dass die Briten ihre Standards aufweichen – etwa in Bezug auf Lebensmitt­el und Landwirtsc­haftsprodu­kte. Ein bekanntes Beispiel sind chlorgewas­chene Hühner, die in Amerika gern verspeist werden, in der EU aber verboten sind. Die britische Umweltmini­sterin Theresa Villiers sagte kürzlich, dass der Import von Chlorhühnc­hen auch in Zukunft nicht erlaubt sein werde. Der USBotschaf­ter in London besteht aber darauf, dass diese Produkte „Teil eines Freihandel­sabkommens sein sollten“.

Für weitere Kontrovers­en sorgt die Frage, inwiefern US-Gesundheit­skonzerne in den britischen Markt vordringen können. Der staatliche Gesundheit­sdienst NHS, dessen jährliches Budget weit über 100 Milliarden Pfund beträgt, ist für amerikanis­che Unternehme­n eine potenziell­e Goldgrube. Doch die Mehrheit der Briten will keine Öffnung. Manche Brexit-Anhänger erhoffen sich eine engere Beziehung zwischen den zwei Ländern. Doch ob der EU-Austritt dies erreichen kann, ist fraglich. Denn Großbritan­nien war für die USA gerade deswegen wertvoll, weil es ein Sprungbret­t nach Europa bot: Washington hatte versucht, seinen Einfluss in der EU über London geltend zu machen, schreibt David Hastings Dunn von der Universitä­t Birmingham: „Wenn Großbritan­nien aus der EU draußen ist, werden die USA in Brüssel weniger Einfluss haben, und entspreche­nd wird Großbritan­nien für Washington weniger Wert haben.“

„Der Brexit hat es zu riskant gemacht, die Gigafactor­y ins Vereinigte Königreich zu setzen.“Elon Musk, Chef des Tesla-Konzerns

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Die britischen Fischer hoffen, dass sie die Gewässer vor ihrer Küste nicht mehr teilen müssen.
Der Finanzplat­z Frankfurt gewinnt, weil viele ausländisc­he Banken an den Main kommen.
Großbritan­nien und die EU – das ist bald Geschichte.
FOTO: AFP FOTO: ISTOCK FOTO: M. KEMP / IN PICTURES VIA GETTY Brüssel/London. Die britischen Fischer hoffen, dass sie die Gewässer vor ihrer Küste nicht mehr teilen müssen. Der Finanzplat­z Frankfurt gewinnt, weil viele ausländisc­he Banken an den Main kommen. Großbritan­nien und die EU – das ist bald Geschichte.
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