Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Die Gewinner des Brexit
Warum Macron, Aldi und deutsche Hochschulen vom britischen EU-Austritt profitieren
Es ist ein historischer Tag für Europa: Großbritannien verlässt Freitagnacht um 24 Uhr die Europäische Union. Ein Verlust für die EU, ein riskanter Schritt für die Briten. Wirtschaftsexperten in der EU gehen überwiegend davon aus, dass der Brexit wegen Erschwernissen im Handel zu Wohlstandsverlusten führt – auf der Insel, in geringerem Maß auch auf dem Kontinent. Doch wo Verlierer sind, gibt es auch Gewinner. Wer profitiert vom Brexit, wirtschaftlich, politisch? Ein Überblick über große und kleine Nutznießer des Briten-Abschieds:
China und die USA:
Die beiden Großmächte erhoffen sich vom Brexit Vorteile: Geopolitisch verliert die EU als kleinerer Rivale an Kraft und Durchsetzungsvermögen, denn mit Großbritannien verabschiedet sich eines der stärksten Mitglieder. Es war mit 67 Millionen Einwohnern drittgrößter EUStaat, zweitstärkste Volkswirtschaft und die führende Militärmacht. Kein Wunder, dass US-Präsident Donald Trump die Brexit-Entscheidung überschwänglich lobt und anderen EU-Staaten zur Nachahmung empfiehlt – Trump setzt auf ein Ende der ungeliebten EU. Auch China sieht den Brexit als Chance: Die EU werde schwächer, so analysieren Experten in Peking, zugleich winke ein attraktiver Handelsvertrag mit Großbritannien. Umgekehrt hofft die britische Industrie, der chinesische Markt könne wichtiger sein als die EU. „Der Brexit ist nicht allein eine regionale Angelegenheit“, so eine Analyse der UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (Unctad). Sobald London die EU hinter sich lasse, werde das die Möglichkeiten von Nicht-EU-Ländern verbessern, nach Großbritannien zu liefern.
Die britischen Fischer:
Dass die Fischerboote vom Kontinent nicht mehr so ohne Weiteres in den ertragreichen britischen Gewässern fischen dürfen, war eines der großen Versprechen während der Brexit-Kampagne 2016. Die britischen Fischer waren deshalb mehrheitlich klare Austrittsbefürworter. Mit einem neuen Gesetz sollen die Briten „die Kontrolle über unsere Fischereigewässer zurückholen“, wie Premier Boris Johnson erklärt. Dass das Land die gescheiterte Fischereipolitik
der EU verlassen könne, sei eine der wichtigsten Errungenschaften des Brexit, behauptet die Regierung. Noch ist nicht wirklich sicher, ob Johnson das Versprechen einlöst. Bis Ende des Jahres gilt eine Übergangsfrist, dann müssen neue Vereinbarungen stehen. Die EU will das Thema möglichst schon bis Juli geklärt haben und erreichen, dass sich wenig ändert. Doch die Regierung in London will davon nichts wissen – sie hätte große Probleme, wenn sie in dieser Frage einknicken sollte.
Frankreich und die Südallianz:Mit
dem Abschied Großbritanniens verändern sich endgültig die politischen Gewichte in der EU: Die Gruppe der mittel- und nordeuropäischen Länder einschließlich Deutschland, die sich dem Freihandel verschrieben haben und allzu starke staatliche Eingriffe in die Marktwirtschaft ablehnen, wird kleiner; Berlin geht ein Verbündeter in der Wirtschaftspolitik verloren. Frankreich dagegen, traditionell eher Anhänger eines dirigistischen Wirtschaftsmodells mit Neigung zum Protektionismus, gewinnt an Einfluss, es hat eine südeuropäische Allianz mit großen Ländern wie Spanien und Italien hinter sich. Kein Wunder, dass Macron den Brexit auch als Chance sieht, die Bedeutung der Grande Nation zu stärken. In der Militärpolitik ist Frankreich nun die einzige Atommacht der EU, der automatisch eine Führungsrolle zuwächst.
Finanzplatz Frankfurt:
Der Bankenstandort am Main ist ein Gewinner des Brexit, so schätzt es der Bankenverband Deutschland ein. Über 30 ausländische Banken haben ihre Geschäfte wegen des britischen EU-Austritts nach Frankfurt verlagert, weit mehr als etwa nach Paris,
Dublin oder Luxemburg. Die Landesregierung feiert Hessen als einziges Bundesland, das vom Brexit insgesamt profitieren werde.
Neue Europa-Abgeordnete:
Der Brexit beschert 27 Politikern über Nacht endlich einen Sitz im EU-Parlament. Sie waren schon im Mai 2019 gewählt worden auf jene Plätze, die der Brexit freimachen sollte. Denn mit dem Austritt fallen nur 46 der 73 britischen Mandate tatsächlich weg – die anderen 27 Sitze wurden unter 14 Mitgliedstaaten verteilt, die bislang besonders unterrepräsentiert sind, voran Frankreich und Spanien; Deutschland profitiert davon nicht. Doch weil der Brexit mehrfach verschoben wurde, durften die Gewählten ihr Mandat nicht antreten. Nun ist es so weit.
Investition in Berlin/Brandenburg:
Lange hat Berlin auf einen BrexitAufschwung gewartet, das Interesse von Firmen aus London blieb aber überschaubar. Jetzt hat es doch ge- klappt, mit der geplanten Tesla-An- siedlung im Berliner Speckgürtel. Der Autobauer ist zwar in den USA zu Hause, aber die Investitionsent- scheidung für Deutschlands Osten ist eine Brexit-Entscheidung: Tesla- Chef Elon Musk hat lange damit ge- liebäugelt, seine Europafabrik in Großbritannien zu bauen. Aber: „Der Brexit hat es zu riskant ge- macht, die Gigafactory ins Vereinig- te Königreich zu setzen“, sagt Musk.
Aldi und Lidl:
Für die deutschen Discounter auf der Insel sehen Experten gute Chan- cen auf neue Marktanteile. Großbri- tannien importiert 60 Prozent seiner Lebensmittel aus dem Ausland, viele Waren dürften in absehbarer Zeit teurer werden, erwartet auch eine breite Mehrheit der Bürger. Vermutlich werden die Verbraucher wegen des Brexit noch mehr auf die Preise schauen, schätzt der Handelsverband Deutschland. Gute Zeiten für die beiden Discounter aus Deutschland, die schon 15 Prozent des britischen Einzelhandelsmarktes erobert haben.
Attraktive Hochschulen:
Hochschulen und Forschungseinrichtungen in Deutschland berich- ten über einen spürbaren Zuzug von hochqualifizierten Wissenschaft- lern aus Großbritannien. Die briti- schen Universitäten haben zwar einen hervorragenden Ruf, aber wenn erst die EU-Forschungsgelder wegfallen, wird das Spuren hinter- lassen, vor allem in der Grundlagen- forschung. Vorsichtshalber verstär- ken britische Universitäten schon ihre Kooperationen mit Hochschu- len auch in Deutschland. Erfolgs- meldungen kommen vor allem aus Süddeutschland.
Gladheim in der neuen Mitte:
In Gladheim in der Nähe von Würz- burg darf gefeiert werden: Nach dem Brexit ist der unterfränkische Fle- cken mit 80 Einwohnern neuer geo- grafischer Mittelpunkt der EU. Der Bürgermeister rechnet mit interna- tionalen Gästen und lässt am neuen „Nabel der EU“schon die Europa- flagge hissen.
Handschlag in London: Mike Pompeo (l.) und Boris Johnson.
Nach dem Brexit gehört ein Freihandelsabkommen mit den USA zu den höchsten Prioritäten der britischen Regierung. US-Präsident Donald Trump hatte Johnsons Wahlsieg im Dezember enthusiastisch begrüßt und einen „großartigen“Deal in Aussicht gestellt. Doch die besondere Beziehung zwischen Großbritannien und Amerika könnte stark unter Druck geraten.
Früher war London für Amerika ein Sprungbrett nach Europa
Die USA bestehen darauf, dass die Briten ihre Standards aufweichen – etwa in Bezug auf Lebensmittel und Landwirtschaftsprodukte. Ein bekanntes Beispiel sind chlorgewaschene Hühner, die in Amerika gern verspeist werden, in der EU aber verboten sind. Die britische Umweltministerin Theresa Villiers sagte kürzlich, dass der Import von Chlorhühnchen auch in Zukunft nicht erlaubt sein werde. Der USBotschafter in London besteht aber darauf, dass diese Produkte „Teil eines Freihandelsabkommens sein sollten“.
Für weitere Kontroversen sorgt die Frage, inwiefern US-Gesundheitskonzerne in den britischen Markt vordringen können. Der staatliche Gesundheitsdienst NHS, dessen jährliches Budget weit über 100 Milliarden Pfund beträgt, ist für amerikanische Unternehmen eine potenzielle Goldgrube. Doch die Mehrheit der Briten will keine Öffnung. Manche Brexit-Anhänger erhoffen sich eine engere Beziehung zwischen den zwei Ländern. Doch ob der EU-Austritt dies erreichen kann, ist fraglich. Denn Großbritannien war für die USA gerade deswegen wertvoll, weil es ein Sprungbrett nach Europa bot: Washington hatte versucht, seinen Einfluss in der EU über London geltend zu machen, schreibt David Hastings Dunn von der Universität Birmingham: „Wenn Großbritannien aus der EU draußen ist, werden die USA in Brüssel weniger Einfluss haben, und entsprechend wird Großbritannien für Washington weniger Wert haben.“
„Der Brexit hat es zu riskant gemacht, die Gigafactory ins Vereinigte Königreich zu setzen.“Elon Musk, Chef des Tesla-Konzerns