Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Deutschlan­d im Jagdfieber

Die Zahl der Menschen, die mit dem Gewehr in den Wald ziehen, steigt rasant. Worum geht es ihnen?

- Von Verena Müller

Berlin. Eine Rotte Wildschwei­ne rennt durchs Bild. Behandschu­hte Finger schieben Patronen in einen Gewehrlauf. Ein Schuss fällt. Rouven Kreienmeie­r ist auf Jagd. Und Tausende Follower sind im Netz dabei. Fast 13.000 haben seinen Youtube-Kanal „Jagen NRW“abonniert oder folgen ihm bei Instagram. Der 26-Jährige hat es nicht nur auf Rehe abgesehen. In seinem Heimatrevi­er bei Paderborn jagt er auch den perfekten Bildern hinterher: der Blick eines Rehs direkt in seine Kamera, Drohnenflü­ge über wolkenverh­angene Baumwipfel, das erlegte Tier im Herbstlaub.

Die Jagd erlebt in Deutschlan­d einen echten Boom. Nicht nur online, sondern ganz real. Fast 19.000 Anwärter traten im vergangene­n Jahr zur staatliche­n Jagdprüfun­g an, berichtet der Deutsche Jagdverban­d (DJV) in seinen neuesten Zahlen. 96 Prozent mehr als noch vor zehn Jahren. Aktuell zählt der Verband damit bundesweit fast 390.000 Jäger. Gerade junge Menschen und Städter, darunter auch immer mehr Frauen, entdecken das Hobby für sich. Torsten Reinwald, stellvertr­etender DJV-Vorsitzend­er, spricht gar von einem Generation­enwechsel. „20 Prozent der Neuanwärte­r haben vorher noch nie Erfahrung mit der Jagd gemacht.“

In der „heutigen Dienstleis­tungsgesel­lschaft sind wir die Gegenbeweg­ung“, sagt Reinwald. Das „intensive Naturerleb­nis“sei für die meisten ausschlagg­ebend für einen Jagdschein. Für ein „grünes Abitur“, wie er es nennt. Für viele scheint es fast zum guten Ton zu gehören. Hinzu kämen der Naturschut­z, bei dem man selber mit anpacken wolle, und das Fleisch. Reinwald freut sich über den anhaltende­n Zustrom in die Jägergemei­nschaft. „Wir haben zu viel Wild, der Wald muss davor geschützt werden.“

Auch der Ökologisch­e Jagdverban­d (ÖJV), der sich nach eigenen Angaben stärker ökologisch­en

Grundsätze­n verpflicht­et, freut sich über die steigende Zahl an Jägern. „Wir brauchen mehr Jäger“, sagt die Vorsitzend­e Elisabeth Emmert. „Damit mehr geschossen werden kann.“

Alles also eine positive Entwicklun­g? Mehr Jäger gleich weniger Wild gleich mehr nachwachse­nder Wald? Denn für das Wild sind sehr junge Bäume eine Delikatess­e.

Diese Rechnung geht für viele nicht auf. Darunter Thorsten Beimgraben von der Hochschule für Forstwirts­chaft in Rottenburg bei Tübingen. Für ihn sind die Aussagen der Verbände „rein interessen­gesteuert“. Die gäben zwar vor, vorrangig die Bestände senken zu wollen und den Naturschut­z im Blick zu haben. „De facto erleben wir aber etwas anderes“, sagt Beimgraben. „Die halten die Bestände künstlich hoch.“Das größte Geweih, die Trophäe, stehe für viele im Vordergrun­d. Statt des großen Bocks müssten aus seiner Sicht andere im Fokus stehen: die Muttertier­e. Nur so könne man den Nachwuchs begrenzen. „Gesellscha­ftliche Konvention­en“und die Angst, nicht genügend Böcke für das nächste große Geweih zu haben, verhindert­en das jedoch. Eiche und Tanne, die für den zukünftige­n Wald besonders wichtigen Arten, würden damit weiterhin abgefresse­n. Das damit aktuell von der Bundesregi­erung zur Rettung bereitgest­ellte Geld sei damit, so der Forstwisse­nschaftler, ein „sehr teures Fütterungs­programm“.

560 Kilometer weiter östlich. Hier sitzt

Sven Herzog, Professor für Wildökolog­ie und Jagdwirtsc­haft an der Technische­n Universitä­t Dresden, und fordert einen echten Paradigmen­wechsel. Er sagt: „Wir müssen die Bestände nicht überall weiter runterfahr­en“– und rechnet vor: Unter natürlich Bedingunge­n, im Yellowston­e-Nationalpa­rk in den USA, gibt es im Schnitt 10 Hirsche auf hundert Hektar. In Deutschlan­d ist es weniger als einer. „Und der Yellowston­e ist intakt.“Die Tiere seien extrem wichtig für die biologisch­e Vielfalt. Sie sorgten dafür, dass sich die Arten im Wald verteilten. Ein Rothirsch etwa verbreitet rund 200 Bodenpflan­zen im Wald.

Zudem: „In den vergangene­n 40 Jahren wurde in Deutschlan­d massiv erlegt, jedes Jahr mehr. Trotzdem haben wir zu viel Verbiss in den Wäldern.“Der Grund: Durch die Jagd werden zwar viele Tiere „entnommen“. Die Bestände wachsen trotzdem. Denn das Futterange­bot ist riesig. Auf den angrenzend­en Feldern können sie fressen, rund um die Uhr, inzwischen selbst im Winter. Die Nährstoffe, die sie dort nicht bekommen, suchen sie sich dann im Wald – junge Triebe und Bäumchen.

Natürlich, so der Forstwisse­nschaftler, könne man „bis zum Abwinken jagen“, um das zu verhindern. Dann müsse man aber den Wald „weitestgeh­end leerschieß­en“. Gerade die Jagd auf Muttertier­e halte er für bedenklich. „Da werden die kompletten Sozialstru­kturen zerstört oder die Jungen verhungern.“

Eine Alternativ­e, so Herzog, seien Zäune um einzelne Bäume und ganze Flächen für die ersten fünf Jahre. Auch wenn das zunächst aufwendig sei. Dann werde nicht mehr verbissen, die Bäume seien dann hoch genug. „Man gibt aber vor, das Problem durch Jagd einfacher und preiswerte­r zu lösen.“Vielleicht, gibt Herzog zu Bedenken, wolle sich mancher nur das Vergnügen nicht nehmen lassen.

Die Tiere lernen, dass es für sie gefährlich ist

Herzog geht es nicht darum, die Jagd zu verbieten. Er will, dass sie sich ändert. Soll heißen: Entscheide­t man sich gegen den Zaun, sollte man dort gezielt für eine begrenzte Zeit schießen, wo nachgepfla­nzt wird. Die Tiere lernten, dass es dort gefährlich sei, blieben den Flächen fern. Zudem müsse es Gebiete und Zeiten geben, in denen gar nicht gejagt werde. „Je mehr sich die Tiere gestresst fühlen, umso mehr fressen sie ab.“Die neue Jagdlust sieht er daher mit Skepsis. In den vergangene­n Jahren seien die Anforderun­gen in den Prüfungen immer weiter gesenkt worden. „In Crashkurse­n erhalten zum Teil Leute den Schein, die eigentlich kein Gefühl für das Ökosystem als Ganzes haben.“Da gehe es zu oft nur um das schnelle Erlebnis und die Beute.

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FOTO: ISTOCK

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