Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
„Ich begegne jedem mit Respekt“
Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) warnt vor wachsenden Protesten gegen die Corona-Auflagen – und sagt, welche Branche jetzt besondere Hilfe braucht
Dresden/Berlin. Es ist kurz nach 9 Uhr, als Michael Kretschmer an diesem Morgen sein Büro in der Staatskanzlei betritt und sich zum Videointerview an den Schreibtisch setzt. Weißes Hemd, dunkelblaue Krawatte: Der Auftritt, der Furore machte, ist dem sächsischen Ministerpräsidenten nicht mehr anzusehen.
Dieses Foto wird es sicher in den Jahresrückblick schaffen: Michael Kretschmer mit knallgrüner Jacke, ohne Mundschutz, umringt von Anti-Lockdown-Demonstranten. Was war da los?
Michael Kretschmer: Wir erleben viele Diskussionen über das Coronavirus und die staatlichen Maßnahmen. Es ist immer besser, man redet miteinander als übereinander. Dieses Gespräch in Dresden ging anderthalb Stunden und war für mich sehr aufschlussreich. Die Menschen, die sich dort versammeln, schätzen die Gefährlichkeit des Virus ganz anders ein. Es ist immer wieder zu hören: Das ist wie eine Influenza, was soll das eigentlich? Meinen Mundschutz habe ich extra mitgenommen. Am Anfang war es ein lockeres Gespräch. Später, als immer mehr Leute dazukamen, wäre es besser gewesen, die Maske aufzusetzen.
Ein Bürger hat Anzeige erstattet. Wie ernst nehmen Sie das?
Wir leben in einem Rechtsstaat. Jeder muss sich an die Regeln halten. Ich auch.
Ist Ihr Verständnis für den Protest gewachsen?
Ich begegne zunächst einmal jedem mit Respekt. Wir leben in einer freiheitlichen Demokratie. Hier kann jeder seine Meinung sagen und den gewählten Volksvertretern widersprechen. Diese Leute nicht ernst nehmen wäre falsch. Ich möchte verstehen, was die Menschen umtreibt. Das ist eine zwingende Voraussetzung dafür, dass dieses Land sich nicht weiter spaltet. Falschmeldungen, das Internet und die sozialen Netzwerke sorgen für eine große Spaltung.
Das Netz ist schuld?
Das Internet befördert einseitige, radikale Positionen. Umso wichtiger ist, dass die politisch Verantwortlichen einen Beitrag leisten, dass die Gesellschaft zusammenbleibt.
Unter die Demonstranten mischen sich Verschwörungstheoretiker und Extremisten. Wie groß ist die Gefahr, dass sich eine neue Wutbürgerbewegung, eine Corona-Pegida, entwickelt?
Das hängt davon ab, wie wir miteinander umgehen. Wenn jeder, der eine kritische Position hat, sofort in eine Ecke gedrängt und als Gesprächspartner ausgeschlossen wird, wird die Zahl der Demonstranten zunehmen. Die kommenden zwölf Monate werden für dieses Land sehr hart. Wir haben die Krise noch lange nicht überstanden. Wir werden im Herbst wieder höhere Infektionszahlen haben. Wir werden auch alle die Wirtschaftskrise stärker spüren.
Worauf kommt es bei dem Konjunkturpaket an, das die Regierung plant?
Wir müssen uns auf das Wesentliche konzentrieren. Die Unternehmen müssen die nächsten zwölf Monate überstehen. Es geht um die Stärkung von Eigenkapital und Liquidität.
Ich möchte einen Bereich hervorheben, der in Deutschland so stark ist wie in keinem anderen Land: Die Automobilindustrie hat die Chance, die ganze Wirtschaft nach oben zu reißen. Daher setze ich mich sehr für eine Kaufprämie für Autos ein ...
… die sich an ökologischen Kriterien orientiert?
Das muss man auf eine intelligente Art machen: Gefördert wird der Kauf von Neuwagen, die umweltfreundlicher sind als das Auto, das der Käufer dafür abgibt. Auf diese Regel würde ich es aber beschränken. Wir müssen die Kaufprämie ganz einfach und unkompliziert ausgestalten. Wir wollen nicht nur Elektrofahrzeuge fördern – sondern die Automobilindustrie stützen, wie sie jetzt existiert und Millionen Menschen Arbeit gibt. Spielereien und Verästelungen sind fehl am Platz. Wir sind in einer dramatischen Situation.
Ist ein Rettungsschirm für die Kommunen, wie er Finanzminister Olaf Scholz vorschwebt, sinnvoll?
Es braucht einen Rettungsschirm für die Kommunen, der Freistaat Sachsen hat bereits einen gespannt.
Die Kommunen sind flächendeckend Auftraggeber für den Mittelstand. Dabei gilt das Gleiche wie bei der Autoprämie: Es muss vernünftig gemacht werden. Man darf nicht die ganzen Projekte, die man in der Vergangenheit nicht durchsetzen konnte, unter dem Deckmäntelchen Corona wieder auf die Tagesordnung bringen. Eine Altschuldenhilfe ist aus meiner Sicht sachfremd und ein Ablenkungsmanöver. Wir müssen vielmehr den Unternehmen helfen, damit der Steuereinbruch der Kommunen abgefedert wird.
„Wir wollen nicht nur Elektrofahrzeuge fördern, sondern die Automobilindustrie stützen, wie sie jetzt existiert.“Michael Kretschmer