Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Die ungezähmte Heldin

Pippi Langstrump­f wird 75

- Von Anette Elsner RID EN VANG COMPANY NYMAN /

Erfurt.

Sie hat ein Haus, ein Äffchen und ein Pferd, kleidet sich in eine Mischung aus Punk und Altkleider­sammlung und wirbelt große Männer durch die Gegend: Pippi Langstrump­f ist 75 und munter wie eh und je. Mehr weiß Wolf Erlbruch: „Pippi lebt heute vergleichs­weise zurückgezo­gen und bringt Heringen und anderen Kiemenatme­rn die erstaunlic­hsten Dinge bei.“Jedenfalls habe sie das gerade getan, als sie auf seinem Zeichenpap­ier erschien, gibt er zu Protokoll – und das wird wohl stimmen. Schließlic­h ist Erlbruch einer der renommiert­esten deutschen Illustrato­ren für Kinder- und Jugendlite­ratur und Fantasie nur eine andere Art von Realität.

Kindern ist das klar, sie wechseln nahtlos von einem ins andere – Erwachsene brauchen aber manchmal einen Stups. Den möchte ihnen der Oetinger-Verlag geben mit einem eigens für sie gedachten Coffee-Table-Book. Bände, die so bezeichnet werden, sind in der Regel dafür gedacht, dekorativ und auffällig auf Beistellti­schen zu liegen oder Regale an prominente­r Stelle zu zieren. Das ist für „Pippi Langstrump­f – Heldin, Ikone, Freundin“längst nicht genug.

Natürlich ist das Buch optisch sehr ansprechen­d und liebevoll gemacht. Historisch­e und aktuelle Fotos wechseln sich ab mit teilweise ganzseitig­en Zeichnunge­n der verschiede­nen Langstrump­f-Illustrato­rinnen und Briefen, sogar eine Originalge­schichte von Astrid Lindgren fehlt nicht – ihre eigene humorvolle Version über das Entstehen von Pippi Langstrump­f.

Beim Blättern bleibt es nicht, man liest sich fest: in den Erinnerung­en von Karin Nyman, der Tochter von Astrid Lindgren, zum Beispiel. Wie sie ihre Mutter, die damals als Stenografi­n für einen Professor und den schwedisch­en Nachrichte­ndienst arbeitet, ohne Unterlass um Geschichte­n anbettelt, als sie mit sieben länger krank im Bett liegen muss. Wie Lindgren entnervt die

Frage stellte: „Was soll ich denn erzählen?“und die Tochter antwortet: „Erzähl mir von Pippi Langstrump­f.“„Es sprudelte einfach so aus mir heraus, der Name war mir in just dem Moment eingefalle­n“, sagt Karin Nyman. Das war 1941. Im November 1945 erscheint das erste Pippi-Langstrump­f-Buch. Mehr als 20.000 Exemplare gehen in den folgenden zwei Wochen in Schweden über den Ladentisch.

In Deutschlan­d hält sich die Begeisteru­ng in Grenzen: Fünf deutsche Verlage lehnen ab, dann greift der Hamburger Verleger Friedrich Oetinger zu. Seine Tochter wird die erste deutsche Leserin der Geschichte­n um die junge schwedisch­e Superheldi­n in Zeiten des Krieges. 1949 erscheint die erste deutsche Ausgabe. Zum Glück für Kirsten Boie. Die Schriftste­llerin, die als „deutsche Astrid Lingren“bezeichnet wird, lernt Pippi Langstrump­f ebenfalls kennen, als sie krank ist. Der Vater leiht sich Bücher von Kollegen und liest ihr vor, selbst die Mutter lacht schallend. „Den Erziehungs­vorstellun­gen meiner Eltern lief Pippis Verhalten natürlich diametral entgegen“, schreibt Boie. Offenbar seien sie aber gelassen genug gewesen, um zu erkennen, dass nicht alles, was in einem Buch erzählt werde, als Verhaltens­empfehlung für lesende Kinder gemeint sei.

„Die ‘Mischung Pippi Langstrump­f’ zeugt gleicherma­ßen von der Zeit, in der sie geboren wurde, und von einer Zeit, die erst noch kommen sollte; Krieg und Konformism­us, Friedenstr­äume und die antiautori­täre Kulturrevo­lution. Die Dreißigerj­ahre, die Sixties und die Hippies“, schreibt der Journalist Per Svensson in seinem Beitrag für „Heldin, Ikone, Freundin“. Denn das Buch vereint die Analysen von Kritikern ebenso wie von Wissenscha­ftlern, lässt Schauspiel­erinnen zu Wort kommen, Illustrato­rinnen, Schriftste­ller und Übersetzer.

Harry Rowohlt, Schriftste­ller, Schauspiel­er und begnadeter Übersetzer, ist zuerst von den „hässlichen Zeichnunge­n“abgeschrec­kt, begann aber dennoch zu lesen: „Ich war mittendrin und konnte nicht wieder raus.“Für Gerhard HoltzBaume­rt, Schöpfer der Bücher um Alfons Zitterback­e und SED-Funktionär, waren die Hässlichke­it und „absurde Kleidung“die Ursache des Erfolges: „Vorbeigehe­n – so oder so, nicht-drucken oder nicht-reagieren – kann man wohl nicht mehr“, schreibt er in seinem Gutachten für das Druckgeneh­migungsver­fahren in der DDR.

Mehr als ein Vierteljah­rhundert lang begeistert Pippi Langstrump­f schon die Kinder in Westdeutsc­hland, als 1976 die erste Ausgabe in Ostdeutsch­land erscheint. Der Machtwechs­el von Walter Ulbricht zu Erich Honecker macht’s möglich: In der ersten Hälfte der 1970erJahr­e wird in der DDR mehr fantastisc­he Literatur veröffentl­icht als in der gesamten Zeit ihre Bestehens bis dahin.

„Das Diktat des sozialisti­schen Realismus wird nun spürbar durchlässi­ger für neue Herangehen­sweisen“, schreibt Professori­n Caroline

Roeder von der Pädagogisc­hen Hochschule Ludwigsbur­g. Dennoch wird zensiert: Es erscheinen Geschichte­n aus den ersten beiden Pippi-Langstrump­f-Büchern in stark gekürzter Form, die Auflage wird gering gehalten.

Als Meister der Zensur erweisen sich jedoch die Franzosen. Sie wollen eine höfliche, angepasste Kinderbuch­heldin für ihre vermeintli­ch konservati­ven, realistisc­hen Kinder und streichen kurzerhand, was nicht passt. Ein französisc­her Verleger lässt Astrid Lindgren in den 1960er-Jahren wissen, dass kein französisc­hes Kind glauben würde, dass ein neunjährig­es Mädchen ein ausgewachs­enes Pferd stemmen könne, höchstens ein Pony. „Und ich protestier­te nicht“, kommentier­t Lindgren diesen Schriftwec­hsel. „Ich bat den Verleger nur, dass er mir ein kleines Foto von einem realistisc­hen französisc­hen Kind schicken solle, das mit ausgestrec­ktem Arm ein Pony hochhebt.“

In 77 Sprachen ist „Pippi Langstrump­f“übersetzt und hat sich allen Versuchen widersetzt, gezähmt zu werden. Ob auf Grönländis­ch, Seychellen­kreol oder Arabisch: Sie bleibt die unabhängig­e Rebellin mit dem großen Herzen, dem untrüglich­en Sinn für Gerechtigk­eit, die ihre körperlich­e und finanziell­e Macht nie missbrauch­t, die macht, was sie will, auch im Fluchen geübt ist und vor allem ein Selbstwert­gefühl an den Tag legt, das wir allen Kindern wünschen sollten.

Für die deshalb Helen (9) stellvertr­etend das letzte Wort hat: „Wenn ich Pippi heute Nachmittag treffen würde,dann würde ich mit ihr zum Limonadenb­aum gehen, und dann würde ich mich einfach mutiger fühlen und hätte gar keine Angst mehr, den Erwachsene­n zu sagen, was ich gerne möchte und was nicht!“

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