Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
„Carlotta oder Die Lösung aller Probleme“von Klaus Jäger
S chon von Corricella aus waren die schwarzen Löcher im Mauerwerk zu erkennen. Kam man näher, boten sich dem Blick Details. Die hohen Rundbogenfenster hatten zwar noch ihre Rahmen, ihre Scheiben fehlten jedoch. An den Wänden, selbst denen, die üppig von der Sonne beschienen wurden, wucherten Schimmel und Salpeter. Großflächig war der Putz ausgebrochen. Ließ man den Eingang links liegen und ging geradeaus, so bildete die frisch verputzte und pastellgelb strahlende Kirche Santa Margarita Nuova einen krassen Gegensatz zu den Fensterlöchern auf der linken Seite. Dem Kircheneingang gegenüber waren Kanonen aufgebaut, deren Rohre über die Bucht von Corricella wiesen. Hier fotografierten sich die Touristen zu Dutzenden.
Er hätte auch einen dieser InselBusse nehmen können, dachte Stadler, als sich so ein kurzes, hohes und schmales Exemplar röhrend durch den Torweg zwängte.
Dieser führte durch ein großes hohes Gewölbe, an dessen Frontseiten in den Fels gehauene Nischen möglicherweise früheren Wachen als Unterstand gedient haben könnten. In Gedanken rechnete Stadler nach: Wenn die Anlage seit 1988 nicht mehr als Gefängnis genutzt wurde, dann könnten hier höchstens seit zwanzig Jahren Menschen wohnen. Indes sahen die Häuser aus, als seien sie seit mindestens fünfzig Jahren nicht mehr saniert worden. Möglicherweise waren es früher die Wohnungen des Personals. Er würde fragen müssen. Das hier links könnte das Verwaltungsgebäude gewesen sein. Der langgestreckte Dreigeschosser verjüngte sich symmetrisch mit jedem Stockwerk, gerade so, als hätte man drei Bauklötzer aufeinandergestapelt. Diesen Block hatte man aufs Feinste saniert. Casa di Riposo della Gente di Mare verkündete eine Marmortafel neben dem Eingangsportal. Nett, dachte Stadler, ein Altenheim für Meeresleute.
Rechterhand ging es weiter hinauf. Am Ende des kurzen und steilen Aufstiegs konnte er sich entscheiden – für die schöne Aussicht ging es nach links, zur Abtei San Michele und zum „Kulturpalast“mit dem „Haus der Graziella“, der Inselheiligen, nach rechts. Der Aussichtspunkt hielt, was er versprach. Etwas diesig waren die Felsen von
Capri zu sehen, gegenüber der Golf von Sorrent.
Auch von diesem Punkt konnte er Teile des Kerkers sehen, Stadler wunderte sich, dass die Touristen diesen fast nicht wahrnahmen. Die einzige Informationstafel, die Stadler unten gleich hinter dem Toreingang gesehen hatte, verwies auf den berühmten Film „Il Postino“, der auf der Insel spielt und in den 1990er Jahren auf der Insel gedreht wurde. Ein Film übrigens, der seinerzeit für Aufsehen sorgte. Er wurde mit vielen Preisen bedacht und, wenn sich Stadler recht erinnerte, für vier oder fünf Oscars nominiert. Über den Kerker sollte man einmal einen Film drehen, dachte er. Er sah sich missmutig um und beschloss, sich ein wenig mit dem Strom der Touristen treiben zu lassen.
So kam er über einen Nebeneingang in die kleine Abtei, die ebenfalls über eine prächtige Aussichtsplattform verfügte. Abseits der Leute setzte er sich auf eine Steinmauer und blinzelte in das Blau des Himmels.
Azurblau, sagen die Deutschen. Die Italiener sind noch einen Schritt weiter gegangen. Sie haben den Azur als azzurro gleich per definitionem zur Farbe erklärt. Jetzt die Zeit anhalten. Herrlicher Müßiggang. So sollte es bleiben.
Wird es aber nicht. Wenn sich schon die Erinnerungen, im Guten wie im Bösen, so in die humane Festplatte einbrennen, dass sie sich nicht mit anderem überschreiben lassen, was bleibt dann, wenn ich gehe, fragte sich Stadler. Wenn ich endgültig gehe. Wenn da niemand mehr ist, mit dem ich diese Erinnerungen teilen könnte. Und wieso „niemand mehr“? Es war ja nicht einmal jetzt jemand da, mit dem er den Moment teilen könnte, geschweige denn die Erinnerungen.
Sicher, aufschreiben könnte er alles. Doch war sein bisschen Leben des Aufschreibens wert? Würde es jemanden geben, der das Geschriebene dann auch lesen wollte? Würde er es denn wollen, dass Wildfremde lesen, was ihm widerfuhr?
Immerhin, seine Beiträge würden Bestand haben. Für die Ewigkeit in den Archiven. Doch was bedeutete das schon. Er schrieb für eine Tageszeitung. In seinen ersten Jahren als Journalist tröstete ihn ein erfahrener Kollege, als sich unbemerkt ein Fehler ins Blatt geschlichen hatte, ein vermeidbarer Fehler, ein Fehler, der Laurenz Stadler peinlich war. „Mein Gott, das ist eine Tageszeitung“, hatte der Kollege gedröhnt. „Im günstigsten Fall scheißen morgen Abend die Wellensittiche drauf.“Es hatte eine Weile gedauert, bis er den Witz begriffen hatte. Gelacht hatte er dennoch nicht darüber. Denn dieser Trost beinhaltete zugleich eine fast schmerzliche Gewissheit, die er freilich damals noch nicht erkannte: Bei aller hehren Chronistenpflicht – für eine Tageszeitung zu schreiben heißt, vergänglich zu sein. Journalismus kam von to jour, für den Tag; da gab es keine nennenswerte Halbwertzeit. Aber genau das ist das Problem, dachte sich Stadler. Fortsetzung folgt