Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

App mit Risiken und Nebenwirku­ngen

Die Handy-Warnung sollte einen Durchbruch bringen im Kampf gegen das Virus. Doch die Zweifel wachsen

- Von Theresa Martus und Christian Unger

Berlin. Es ist nicht weniger als ein Freiheitsv­ersprechen: Endlich wieder treffen, wen man will, und nicht ständig die Unsicherhe­it, ob man vielleicht jemandem begegnet sein könnte, der das Virus in sich trägt. Einen Weg zurück zu dem, was vor Corona Normalität war – all das soll eine seit Wochen diskutiert­e App möglich machen. Immer wieder verzögert sich der Start. Erst hieß es: Im April kommt sie. Dann Mai. Jetzt wohl Mitte Juni. Pünktlich zum Ende der weltweiten Reisewarnu­ng, die das Außenminis­terium ausgerufen hat.

Mit der App soll der Nutzer nachverfol­gen, ob er Kontakt zu Infizierte­n hatte. Jeder sendet Signale von seinem Handy, jeder empfängt Meldungen – im Café, beim Spaziergan­g, im Supermarkt. Es ist ein noch nie da gewesenes Gesundheit­s-„Tracking“der Gesellscha­ft. Nur funktionie­rt das Experiment? Wie stark dämmt die App-Nutzung das Virus ein?

Der Software-Riese SAP und die Telekom programmie­ren die Corona-Warn-App. Jetzt haben die Firmen ein Konzept im Internet veröffentl­icht. Danach soll die Anwendung permanent mitlaufen, wenn der Nutzer die App installier­t und das Handy an ist. Einmal eingeschal­tet sendet und empfängt das Handy per Bluetooth-Technik Signale anderer Handys. Die eigene App speichert die anonymisie­rten Identifika­tionsnumme­rn anderer App-Nutzer in der Nähe – die IDs. Ein Risikofakt­or: Weil die App andauernd arbeitet, frisst sie Akku. Die Hersteller nutzen deshalb die „Bluetooth Low Energy“-Technologi­e, kurz BLE. Mit dieser Technik werden weniger Daten übertragen, die Reichweite ist geringer. Das aber ist laut SAP der richtige Weg, denn schließlic­h ist der nahe Kontakt zu Corona-Infizierte­n entscheide­nd. In regelmäßig­en Abständen gleicht die App die gespeicher­ten Nummern mit einer Liste von IDs von Nutzern ab, die sich als infiziert gemeldet haben. Im Ernstfall schlägt die App Alarm – und liefert Handlungse­mpfehlunge­n dazu. Wie diese konkret aussehen, darüber sagt das Konzept wenig: „Hier kann zum Beispiel die Kontaktauf­nahme mit ärztlichem Fachperson­al, mit dem zuständige­n Gesundheit­samt und/oder die freiwillig­e häusliche Isolation empfohlen werden“, heißt es in der Veröffentl­ichung nur.

Wer selbst positiv getestet wird, hat die Möglichkei­t, über die App andere zu informiere­n: Die zuletzt verwendete­n anonymen IDs können Nutzer an den Server schicken, wo andere sie abgleichen können mit ihren eigenen Kontakten. Ob Infizierte das tatsächlic­h tun, bleibt ihnen überlassen. Über Wochen wurde gestritten, ob die Daten der Nutzer zentral auf Servern der Gesundheit­sbehörden

gespeicher­t werden sollen. Mehrere Datenschüt­zer, aber auch IT-Fachleute warnten vor der Gefahr einer Massenüber­wachung und des Datenmissb­rauchs. Am Ende schloss die Regierung diesen Weg aus. Doch all das verzögerte offenbar auch die Entwicklun­g der App – dabei ist Zeit im Kampf gegen die Pandemie ein Faktor.

Ministerpr­äsident Kretschmer: App bringt keine Sicherheit

Und auch jetzt gilt: Zwar ist das Konzept der App online, die Details der Technik sind bislang allerdings unklar – der vollständi­ge und endgültige Quellcode, der genau zeigt, was das Programm kann, ist noch nicht online.

Und auch jenseits der Programmie­rung bleiben offene Fragen. Vor allem eines ist entscheide­nd: Nur wenn möglichst viele Menschen die App nutzen, ist sie im Kampf gegen das Virus effektiv. Doch nur jeder zweite Deutsche hält laut einer Yougov-Umfrage eine Ortung per Handy für richtig. 38 Prozent finden das unangemess­en. Und: Gut 30 Prozent der Deutschen besitzen gar kein Smartphone. Sie können also auch keine App installier­en. Laut Experten müssten aber mindestens 60 Prozent aller Deutschen, besser 70 Prozent diese Warn-Technik auf dem Handy nutzen, damit so die Pandemie trotz Lockerunge­n in der Öffentlich­keit weiter eingedämmt werden kann.

Kommt deshalb die App-Pflicht? Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) hatte schon im April klargemach­t, dass die Nutzung einer App nur freiwillig sein könne. Doch gerade aus ihrer Partei gab es immer wieder Stimmen, die das infrage gestellt haben. Zuletzt: Vizechef der Unionsfrak­tion Thorsten Frei. Er schlug Steuervort­eile für Menschen vor, die die Warn-App nutzen. Vorschläge wie dieser stellten die Freiwillig­keit infrage, warnt dagegen der Verein Digitale Gesellscha­ft, der sich für Bürger- und Verbrauche­rrechte online einsetzt. Der Erwartungs­druck an jeden Nutzer, die App zu installier­en, sei schon jetzt groß, heißt es in einem offenen Brief. In Zukunft könne die Nutzung sogar zur gesellscha­ftlichen Norm werden. „Menschen, die die App bewusst ablehnen, und diejenigen, die sie gar nicht benutzen können, da sie kein kompatible­s Smartphone besitzen oder sich keines leisten können, könnten von anderen geächtet werden.“

Und so bleibt auch nach Wochen der Diskussion die Skepsis gegenüber der App groß – sogar innerhalb der Regierungs­parteien. Erstmals äußert sich ein Landesmini­sterpräsid­ent kritisch: „So wie die Corona-App jetzt auf den Weg gebracht worden ist, bringt sie keine ausreichen­de Sicherheit“, sagt Sachsens Regierungs­chef Michael Kretschmer unserer Redaktion. „Wichtig sind für die Leute heute 1,50 Meter Abstand und Tragen von Mund-Nasen-Schutz.“

Auch Tabea Rößner, die Sprecherin der Grünen-Fraktion für Netzpoliti­k und Verbrauche­rschutz, hat Zweifel – und Fragen: „Habe ich denn einen Anspruch auf einen Test, wenn die App sagt, ich hatte Kontakt zu einer infizierte­n Person? Wenn das Gesundheit­samt mich in Quarantäne schickt, bin ich dann automatisc­h krankgesch­rieben?“Die Grünen wollen ein AppGesetz, das Datenschut­z und Folgen regelt. Rößner warnt wie Kretschmer: Die Anwendung sei kein „Allheilmit­tel“. Man bekämpfe nicht mit ihr allein die Pandemie. Und doch soll sie kommen – jetzt Mitte Juni. Von SAP heißt es zum Starttermi­n nur trocken: „Momentan steht dem nichts im Wege.“

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FOTO: DPA Zu dicht beisammen? Mit der Warn-App soll der Nutzer nachverfol­gen, ob er Kontakt zu Infizierte­n hatte.
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FOTO: GOOGLE/APPLE So könnte eine Corona-Warn-App auf dem Handy aussehen.

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