Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
App mit Risiken und Nebenwirkungen
Die Handy-Warnung sollte einen Durchbruch bringen im Kampf gegen das Virus. Doch die Zweifel wachsen
Berlin. Es ist nicht weniger als ein Freiheitsversprechen: Endlich wieder treffen, wen man will, und nicht ständig die Unsicherheit, ob man vielleicht jemandem begegnet sein könnte, der das Virus in sich trägt. Einen Weg zurück zu dem, was vor Corona Normalität war – all das soll eine seit Wochen diskutierte App möglich machen. Immer wieder verzögert sich der Start. Erst hieß es: Im April kommt sie. Dann Mai. Jetzt wohl Mitte Juni. Pünktlich zum Ende der weltweiten Reisewarnung, die das Außenministerium ausgerufen hat.
Mit der App soll der Nutzer nachverfolgen, ob er Kontakt zu Infizierten hatte. Jeder sendet Signale von seinem Handy, jeder empfängt Meldungen – im Café, beim Spaziergang, im Supermarkt. Es ist ein noch nie da gewesenes Gesundheits-„Tracking“der Gesellschaft. Nur funktioniert das Experiment? Wie stark dämmt die App-Nutzung das Virus ein?
Der Software-Riese SAP und die Telekom programmieren die Corona-Warn-App. Jetzt haben die Firmen ein Konzept im Internet veröffentlicht. Danach soll die Anwendung permanent mitlaufen, wenn der Nutzer die App installiert und das Handy an ist. Einmal eingeschaltet sendet und empfängt das Handy per Bluetooth-Technik Signale anderer Handys. Die eigene App speichert die anonymisierten Identifikationsnummern anderer App-Nutzer in der Nähe – die IDs. Ein Risikofaktor: Weil die App andauernd arbeitet, frisst sie Akku. Die Hersteller nutzen deshalb die „Bluetooth Low Energy“-Technologie, kurz BLE. Mit dieser Technik werden weniger Daten übertragen, die Reichweite ist geringer. Das aber ist laut SAP der richtige Weg, denn schließlich ist der nahe Kontakt zu Corona-Infizierten entscheidend. In regelmäßigen Abständen gleicht die App die gespeicherten Nummern mit einer Liste von IDs von Nutzern ab, die sich als infiziert gemeldet haben. Im Ernstfall schlägt die App Alarm – und liefert Handlungsempfehlungen dazu. Wie diese konkret aussehen, darüber sagt das Konzept wenig: „Hier kann zum Beispiel die Kontaktaufnahme mit ärztlichem Fachpersonal, mit dem zuständigen Gesundheitsamt und/oder die freiwillige häusliche Isolation empfohlen werden“, heißt es in der Veröffentlichung nur.
Wer selbst positiv getestet wird, hat die Möglichkeit, über die App andere zu informieren: Die zuletzt verwendeten anonymen IDs können Nutzer an den Server schicken, wo andere sie abgleichen können mit ihren eigenen Kontakten. Ob Infizierte das tatsächlich tun, bleibt ihnen überlassen. Über Wochen wurde gestritten, ob die Daten der Nutzer zentral auf Servern der Gesundheitsbehörden
gespeichert werden sollen. Mehrere Datenschützer, aber auch IT-Fachleute warnten vor der Gefahr einer Massenüberwachung und des Datenmissbrauchs. Am Ende schloss die Regierung diesen Weg aus. Doch all das verzögerte offenbar auch die Entwicklung der App – dabei ist Zeit im Kampf gegen die Pandemie ein Faktor.
Ministerpräsident Kretschmer: App bringt keine Sicherheit
Und auch jetzt gilt: Zwar ist das Konzept der App online, die Details der Technik sind bislang allerdings unklar – der vollständige und endgültige Quellcode, der genau zeigt, was das Programm kann, ist noch nicht online.
Und auch jenseits der Programmierung bleiben offene Fragen. Vor allem eines ist entscheidend: Nur wenn möglichst viele Menschen die App nutzen, ist sie im Kampf gegen das Virus effektiv. Doch nur jeder zweite Deutsche hält laut einer Yougov-Umfrage eine Ortung per Handy für richtig. 38 Prozent finden das unangemessen. Und: Gut 30 Prozent der Deutschen besitzen gar kein Smartphone. Sie können also auch keine App installieren. Laut Experten müssten aber mindestens 60 Prozent aller Deutschen, besser 70 Prozent diese Warn-Technik auf dem Handy nutzen, damit so die Pandemie trotz Lockerungen in der Öffentlichkeit weiter eingedämmt werden kann.
Kommt deshalb die App-Pflicht? Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte schon im April klargemacht, dass die Nutzung einer App nur freiwillig sein könne. Doch gerade aus ihrer Partei gab es immer wieder Stimmen, die das infrage gestellt haben. Zuletzt: Vizechef der Unionsfraktion Thorsten Frei. Er schlug Steuervorteile für Menschen vor, die die Warn-App nutzen. Vorschläge wie dieser stellten die Freiwilligkeit infrage, warnt dagegen der Verein Digitale Gesellschaft, der sich für Bürger- und Verbraucherrechte online einsetzt. Der Erwartungsdruck an jeden Nutzer, die App zu installieren, sei schon jetzt groß, heißt es in einem offenen Brief. In Zukunft könne die Nutzung sogar zur gesellschaftlichen Norm werden. „Menschen, die die App bewusst ablehnen, und diejenigen, die sie gar nicht benutzen können, da sie kein kompatibles Smartphone besitzen oder sich keines leisten können, könnten von anderen geächtet werden.“
Und so bleibt auch nach Wochen der Diskussion die Skepsis gegenüber der App groß – sogar innerhalb der Regierungsparteien. Erstmals äußert sich ein Landesministerpräsident kritisch: „So wie die Corona-App jetzt auf den Weg gebracht worden ist, bringt sie keine ausreichende Sicherheit“, sagt Sachsens Regierungschef Michael Kretschmer unserer Redaktion. „Wichtig sind für die Leute heute 1,50 Meter Abstand und Tragen von Mund-Nasen-Schutz.“
Auch Tabea Rößner, die Sprecherin der Grünen-Fraktion für Netzpolitik und Verbraucherschutz, hat Zweifel – und Fragen: „Habe ich denn einen Anspruch auf einen Test, wenn die App sagt, ich hatte Kontakt zu einer infizierten Person? Wenn das Gesundheitsamt mich in Quarantäne schickt, bin ich dann automatisch krankgeschrieben?“Die Grünen wollen ein AppGesetz, das Datenschutz und Folgen regelt. Rößner warnt wie Kretschmer: Die Anwendung sei kein „Allheilmittel“. Man bekämpfe nicht mit ihr allein die Pandemie. Und doch soll sie kommen – jetzt Mitte Juni. Von SAP heißt es zum Starttermin nur trocken: „Momentan steht dem nichts im Wege.“