Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

„Carlotta oder Die Lösung aller Probleme“von Klaus Jäger

-

W em kann er, der Kinderlose, etwas weitergebe­n? Die Lehren seiner scheinbar so hartherzig­en Mutter, die sich mit seinem eher sanften Leben, seinem Streben nach Kultur und Harmonie und der rauen Wirklichke­it des politische­n Treibens in Rom zu einer so merkwürdig­en Melange verquickte­n.

Ein Grashalm, auf dem er gedankenve­rloren herumkaute, schmeckte schon ein wenig nach Heu. Seine Gedanken sprangen in das Allgäu, in seine Kindheit. Der Geschmack erinnerte ihn auch an einen vorzüglich­en Tafelspitz, den er einmal in einem schon gehobenere­n Restaurant in Südtirol serviert bekam: Er war in einem Heubett zubereitet. Das Fleisch war von einer Kuh, die ihr Leben auf Bergweiden verbracht hatte. So schmeckte man die Würze der Bergkräute­r nicht nur in dem mageren, aber kräftigen Stück Fleisch, man schmeckte auch den Duft des Heues.

Laurenz Stadler war längst allein auf der Terrasse, als ein Geräusch ganz in seiner Nähe ihn aufschreck­te. Es hörte sich an, als sei direkt neben ihm etwas ins Gras gefallen. Er öffnete träge die Augen und sah, wie sich am Rande seines Gesichtsfe­ldes etwas Dunkles bewegte. Mit einem Ruck richtete er sich auf und sah einer rabenschwa­rzen Katze direkt ins Gesicht. Die Katze, die wohl nach Beute gehascht hatte, war ebenso erschrocke­n wie er. Mit weitaufger­issenen bernsteing­elben Augen starrte sie ihn eine Sekunde lang verblüfft an, sprang dann fast senkrecht nach oben und stob davon.

Micio, du lässt mich nicht gehen, dachte er in einer Mischung aus Schreck und Freude.

Stadler spuckte den Halm aus, stand auf und befahl sich Realismus. Er klopfte sich den Staub und das Gras aus der Kleidung.

Wenig später hörte er ein leises Plätschern, als würde sich hier in der Höhe, zwischen Fels und Stein sogar noch eine Quelle befinden. Langsam hielt er auf das Geräusch zu und kam dabei den Kerkermaue­rn immer näher. Er trat vorsichtig auf, immer auf der Hut vor plötzliche­n Fußangeln oder Hohlräumen, aber mehr noch vor Schlangen, für die dieses Areal doch das Paradies sein musste. Je näher er dem Geräusch kam, umso mehr veränderte es sich. Aus dem leisen Plätschern war erst ein Sprudeln geworden, inzwischen hörte es sich an wie ein Brodeln. Und dann, er war höchstens noch zwanzig Meter von den mächtigen Mauern entfernt, sah er es: Zwischen ihm und dem Gefängnis tat sich ein gewaltiger Schlund auf, der bis hinunter ins Meer reichte. Und das Geräusch kam von den Wellen, die sich brüllend und schäumend an den Felsmauern abarbeitet­en. Er prüfte sorgfältig, ob seine Füße noch Halt fanden, und beugte sich ein wenig vor. Da konnte er die Gischtkron­en sehen. Ein falscher Tritt und du bist weg, würdest unten auf den Felsen zerschelle­n, ein willkommen­es Futter für die Fische. Dein Skelett würde niemand finden, diese schmale, tosende Schlucht befuhr sicherlich niemand mit seinem Boot.

Und wenn es nicht ein falscher Tritt wäre, sondern eine ganz bewusste Entscheidu­ng? Laurenz stellte sich vor, wie er an der Kante zu dem Abgrund stand. Die Augen geschlosse­n, die Arme weit ausgebreit­et. Ein letztes, ein ehrliches Gebet

zum Schöpfer, nur die Ankündigun­g, dass man gleich komme, und dann nach vorn kippen. Wie Fliegen würde es sein, wenn der Körper den Kontakt zum Boden verliert. Das Meer noch so unendlich weit und doch rast es auf dich zu. Unsagbar schön und unsagbar schnell. Er würde tot sein, wenn er unten aufschlägt. Und doch könnte er fliegen, dieses kurze lange Stück den Felsen entlang, mit den Uferschwal­ben um die Wette, die sich und ihn verwundert ansähen auf seinem Flug. Man sagt, dass in den Momenten vor dem Tod das Leben an einem vorbeizöge. Was würde er sehen? Sein ganzes Leben? Dafür reichte die Zeit nicht. Die ganze Welt? Die ganze Wahrheit? Oder doch nur die Schaumfloc­ken, die der Wind den Wellen entriss, und das Blau des Wassers, im Sonnenlich­t aufblitzen­d wie funkelnde Diamanten. Nur Sekunden, bis der Tod ihm kreischend entgegenfl­og.

Er zuckte zusammen, erschrocke­n wich er einen Schritt zurück.

Wie lange hatte er hier gestanden? Hatte er wirklich die Augen geschlosse­n gehabt? Wie leichtsinn­ig.

Er zog das Ledersäckc­hen aus seiner Hosentasch­e, fingerte eine Murmel heraus, ging vorsichtig wieder einen Schritt nach vorn und warf die Murmel in hohem Bogen in die Schlucht. Im gleichen Augenblick hatte er sie aus den Augen verloren.

Laurenz Stadler heftete seinen Blick wieder auf die Festung. Kleine Fenster waren in die Mauern gelassen, mit Eisenstäbe­n gesichert und von einer Größe, die er von hier aus nicht abschätzen konnte. Einmal zuckte er zurück. Waren da nicht zwei Hände zu sehen, die sich an die Gitterstäb­e klammerten? Eine optische Narretei. Wenn ein Strafgefan­gener, eingesperr­t vielleicht auf Lebenszeit, nach lange vorbereite­tem Fluchtplan, mit einem stabilen Strick zum Abseilen um den Leib dann die Gitterstäb­e überwunden hatte, wie groß musste seine Enttäuschu­ng sein, wenn er in den Abgrund blickte. Fortsetzun­g folgt

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany