Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Kopfsprung ins Ungewisse
Das Thüringer Leistungsschwimmen steht, auch wegen Corona, vor schweren Zeiten
Erfurt. Schon der Ottonormalverbraucher sehnt sie herbei, die Freibadsaison. Endlich wieder erfrischen, ein paar Bahnen ziehen, auf andere Gedanken kommen, mit dem Gefühl erfrischend-nasser Freiheit auf der Haut. Unbezahlbar, gerade jetzt, da das Leben eingeschränkt, ein Sommerurlaub im Süden kaum möglich ist.
Vor allem aber die Leistungsschwimmer können es kaum erwarten, endlich wieder in ihrem Element zu sein. „Sie werden auf jeden Fall privat reinspringen, und wir versuchen, solange die Schwimmhallen noch geschlossen sind im Freibad ein einigermaßen normales Training durchzuführen, um Verlorenes aufzuholen“, sagt Jenny Joel, Geschäftsführerin des Thüringer Schwimmverbandes. Dem einen würde es leichter fallen, dem anderen schwerer, sich das „Wassergefühl“wieder zu erarbeiten.
Die Thüringer Leistungsschwimmer hat die Corona-Krise hart getroffen. Seit über zwei Monaten können sie nicht mehr in ihrem Element trainieren. In anderen Bundesländern gab es Ausnahmegenehmigungen für die Leistungsspitze, in Thüringen, wo die Besten der Zunft am Landesstützpunkt in Erfurt trainieren, bisher nicht. „Das ist für uns schwer nachzuvollziehen. Schließlich
ist das Virus im Wasser durch das Chlor laut Expertenmeinung nicht übertragbar. Wir sind im Kontakt mit allen wichtigen Institutionen, haben ein Anfrage ans Gesundheitsministerium gestellt. Wir brauchen für die Thüringer Schwimmvereine eine Lösung“, fordert Joel.
Dabei geht es allein um die Vorbereitung der nächsten Saison, die mit dem ersten Wettkampf im September starten soll. „Diese Saison ist gestorben“, weiß Joel, schließlich wurden alle Wettkämpfe abgesagt. So auch der Saisonhöhepunkt, die deutschen Jahrgangsmeisterschaften, die in der nächsten Woche stattgefunden hätten und bei denen die Thüringer Starter in den letzten Jahren immer wieder mit Medaillen auf sich aufmerksam machen konnten.
Nur noch sechs Schwimmer am Sportgymnasium eingeschult
Insofern sieht Jenny Joel ein Fragezeichen hinter so manchem jugendlichen Schwimmer: „Wenn die Wettkämpfe, auf die man sonst hintrainiert, fehlen, besteht gerade bei den Sportlern in der Pubertät die Gefahr, dass sie sich fragen: Wofür mache ich es?“Deshalb gelte es, den jungen Sportlern Ziele vor Augen zu führen.
Es ist ein Aspekt, der das Nachwuchsschwimmen auf Leistungsniveau nicht erst seit Corona zur besonderen Herausforderung macht: Wie motiviert man die jungen Talente in einer Sportart, in der selbst die Besten im Erwachsenenbereich kaum davon leben können, sich für den wenig profitablen Erfolg zu schinden? Schon im Juniorenbereich geht es um Kaderstatus und Förderung, also um Topleistungen und die Qualifikation für internationale Höhepunkte. „Dafür muss man viele Kacheln zählen“, beschreibt die TSV-Geschäftsführerin metaphorisch den hohen Trainingsaufwand, der notwendig ist.
Ein Aufwand, den immer weniger Kinder und Jugendliche bereit sind, zu betreiben. Für den immer weniger Eltern bereit sind, ihre Kinder schon mit zehn Jahren aufs Erfurter
Sportinternat zu schicken. „Es fehlt die Basis“, klagt Joel. Wo es vor Jahren noch reine Schwimmklassen am Coubertin-Gymnasium gab, würden jetzt nur noch wenige Leistungsschwimmer eingeschult – im vergangenen Jahr waren es ganze sechs.
Entsprechend dünn ist die Leistungsspitze geworden. Das derzeit hoffnungsvollste Talent am Landesstützpunkt sei Franz Ahnert vom Erfurter SSC, der in seinem Jahrgang 2006 den deutschen Altersklassenrekord über 200 Meter Schmetterling hält. Auch der noch ein Jahr jüngere Louis Bauer von der SG Gotha/Arnstadt habe gute Chancen, sich demnächst für den höchsten Nachwuchskader NK1 zu qualifizieren und bei JuniorenWeltund -Europameisterschaften starten zu dürfen – im Moment sind beide dafür noch zu jung.
Das entgegengesetzte Problem hat Langstrecken-Freistiltalent Henriette Freyer (DLRG Weimar): Sie war auf dem Sprung in den NK1Kader, doch Corona verhinderte dies und in der nächsten Saison könnte sie als Jahrgang 2003 dafür bereits zu alt sein.
Für die wenigen großen Talente des Thüringer Schwimmsports und auch für alle anderen gilt aktuell: Geduld haben und sich fithalten – bis sie dann endlich wieder hineinspringen können, in ihr Element.