Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Streit um Corona-Lockerungen
Keine Vorabsprachen Ramelows mit SPD und Grünen. Jenas OB spricht vom Gang aufs Minenfeld
Erfurt. Die Ankündigung weit gehender Corona-Lockerungen durch Regierungschef Bodo Ramelow (Linke), wird zum Stresstest für die Minderheitsregierung. Koalitionspartner SPD und Grüne wurden von ihm vorab nicht mit ins Vertrauen gezogen, bestätigten Vertreter beider Parteien. Vielmehr habe es sie eiskalt erwischt. Bereits am Dienstag soll das Kabinett beraten.
Ramelow stellte in Aussicht, ab 6. Juni die strengen Corona-Beschränkungen
aufzuheben. Stattdessen soll es je nach Infektionsverlauf regionale Maßnahmen vor Ort geben. Jenas Oberbürgermeister, Thomas Nitzsche (FDP), warnt vorm „Gang aufs Minenfeld“. Es klinge für viele sicherlich verlockend. Er glaube aber nicht, dass die Pandemie vorbei sei.
Unabhängig von der Anzahl der Infektionen pro 100.000 Einwohnern plädiert Katharina KönigPreuss weiterhin für Maßnahmen, die die Ausbreitung von Corona beschränken können, twittert die Linken-Landtagsabgeordnete.
Sie halte es für einen Fehler, Abstandsregelungen und Mund-Nasenschutz aufzuheben. SPD-Landeschef Wolfgang Tiefensee betont, dass ein „Paradigmenwechsel“von schwer nachvollziehbaren Sonderregelungen hin zu allgemeinen Hygieneund Schutzstandards verabredet gewesen sei. Diese könnten dann in lokaler Verantwortung umgesetzt werden. Maßnahmen entsprechend des Pandemie-Verlaufs zu lockern sei grundsätzlich zu begrüßen, sagt Grünen Landessprecherin
Ann-Sophie Bohm-Eisenbrandt. Handlungsbedarf sieht sie bei Schulen und Kindergärten.
Die CDU mahnt, die Kommunen nicht im Stich zulassen. Es reiche nicht aus, lediglich Empfehlungen zu setzen, erklärt Generalsekretär Raymond Walk. Der angekündigte Maßnahmeplan sei aus einem von ihr vorgelegten Positionspapier kopiert, wirft dagegen die AfD Ramelow vor. FDP-Chef Thomas Kemmerich begrüßt es, wenn die CoronaEinschränkungen tatsächlich beendet würden.
Erfurt/Berlin. Am Wochenende sind sie wieder auf den Straßen gewesen, in Stuttgart, Berlin, Köln und vielen anderen deutschen Städten: Die Gegner der Anti-Corona-Maßnahmen machen ihrem Unmut Luft. Sie demonstrieren gegen die Einschränkungen, mit denen die Ausbreitung des Virus eingedämmt werden soll – während genau diese Einschränkungen beständig weniger werden.
Neuer Vorreiter auf dem Gebiet der Lockerungen ist Thüringen. Hier soll es ab Samstag, 6. Juni, also in knapp zwei Wochen, gar keine landesweiten Regeln zur Verhinderung neuer Infektionen mehr geben.
Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) begründete das am Wochenende mit den niedrigen Infektionszahlen: Anfang März sei auf einer Grundlage von geschätzt
60.000 Infektionen entschieden worden. „Jetzt haben wir aktuell
248 Infizierte“, sagte er. „Der Erfolg gibt uns mit den harten Maßnahmen recht – zwingt uns nun aber auch zu realistischen Konsequenzen und zum Handeln.“Er empfehle deshalb die Aufhebung der Maßnahmen. Entsprechende Vorschläge will er in dieser Woche dem Thüringer Kabinett unterbreiten.
Für den Freistaat hieße das: auf Landesebene keine Maskenpflicht, keine Kontaktbeschränkungen, kein Mindestabstand mehr. Statt auf staatlichen Zwang wolle man auf Eigenverantwortung der Bürger setzen, so der Ministerpräsident. Anstelle der landesweiten Regeln soll es dann regionale Maßnahmen geben, abhängig vom Infektionsgeschehen vor Ort. Im Gespräch ist ein Grenzwert von 35 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner innerhalb einer Woche.
Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Regierungschefs der Bundesländer hatten sich Anfang Mai darauf geeinigt, dass bis zum Freitag, 5. Juni, noch weitgehende Kontaktbeschränkungen gelten. Darüber hinaus sollten die Bundesländer über das Ausmaß der Lockerungen selbst entscheiden können, mit Blick auf die Entwicklungen der jeweiligen Infektionszahlen.
Das Echo auf Ramelows Vorstoß fiel am Wochenende skeptisch aus. Eine Abschaffung der Regeln klinge sicherlich für viele verlockend, schrieb der Jenaer Oberbürgermeister Thomas Nitzsche (FDP) auf Facebook. Doch er glaube nicht, dass die Pandemie vorbei sei. „Vor dieser wohl weitreichendsten Entscheidung im ganzen bisherigen Verlauf der Pandemie hätte ich gern gewusst: Gestützt auf welche Erkenntnisse, beraten von welchen Experten, unter Abwägung welcher Überlegungen will der MP diese Entscheidung treffen?“Ihm scheine das „ein Gang aufs Minenfeld“, sagte der Oberbürgermeister. Jena hatte Anfang April als erste deutsche Stadt eine Maskenpflicht eingeführt.
Auch Ramelows SPD-Koalitionspartner zeigten sich zurückhaltend: Ein Ende der Beschränkungen bedeute ein Aufatmen bei Familien, Beschäftigten und in der Wirtschaft, sagte Thüringens Wirtschaftsminister Wolfgang Tiefensee am Sonntag. Damit könnten alle Unternehmen und Einrichtungen, für die noch Einschränkungen gelten, wieder öffnen. Er betonte allerdings auch, dass Vorgaben zu Hygieneund Schutzstandards nicht an Kommunen und Unternehmen delegiert werden dürften. „Das verbietet sich schon deshalb, weil es sonst einen Überbietungswettbewerb um die lockerste und großzügigste Regelung geben würde, wie das ja auch schon zwischen den Ländern auf Bundesebene zu beobachten war.“
Tiefensees Parteifreund, SPD-Gesundheitsexperte und Bundestagsabgeordnete Karl Lauterbach, wurde deutlicher: „Das ist ganz klar ein Fehler“, sagte Lauterbach der „Saarbrücker Zeitung“. Es gebe keine Neuigkeiten in Bezug auf die Gefährlichkeit des Virus. Thüringen stelle damit genau die Maßnahmen infrage, „denen man den gesamten Erfolg im Moment zu verdanken hat“. Auch Ramelows Amtskollege Tobias Hans (CDU), Ministerpräsident des Saarlands, zeigte sich irritiert über den Vorstoß. Es sei nicht der Job der Politik, Sehnsüchte zu stillen, sagte Hans der „Welt“, sondern nüchtern, verantwortungsvoll und wissenschaftsgeleitet abzuwägen.
Dass das Virus nicht verschwunden ist, zeigen die Nachrichten der vergangenen Tage: In mehreren Orten in Deutschland gibt es nach den jüngsten Lockerungen neue Infektionsketten, die sich auf größere Zusammenkünfte zurückführen lassen. So sind nach einem Gottesdienst Mitte Mai in einer baptistischen Gemeinde in der Region Frankfurt am Main mindestens 107 Menschen neu mit dem Virus infiziert. Das teilte Hessens Gesundheitsminister Kai Klose (Grüne) mit. Die Menschen lebten in Frankfurt und drei hessischen Landkreisen.
Im niedersächsischen Ort Moormerland steht ein Restaurant im Zentrum eines neuen Ausbruchs Dort hatte der Betreiber eines Restaurants 40 Menschen zur Wiedereröffnung des Betriebs eingeladen Wenige Tage danach sei er von einem Gast informiert worden, dass dieser mit dem Virus infiziert sei Mittlerweile lassen sich elf Neuinfektionen auf den Abend zurückführen. Für 70 Personen wurde häusliche Quarantäne angeordnet.
Da einige von ihnen bereits Symptome zeigten, seien weitere Infektionsfälle nicht auszuschließen heißt es von Behörden des betroffenen Landkreises Leer. Der Betreiber der Gaststätte gibt an, die Abstandsund Hygieneregeln seien eingehalten worden. Dem Landkreis zufolge liegen allerdings Hinweise vor, dass gegen Corona-Regeln verstoßen wurde.
Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt zeigt sich unserer Redaktion gegenüber besorgt über die neuen Ausbrüche und mahnt zur Wachsamkeit. „Die Länder sind in der Pflicht, immer wieder zu überprüfen, ob ihre Regeln geeignet sind, die Bürgerinnen und Bürger zu schützen, oder angepasst werden müssen“, sagte sie. „Viele von ihnen haben die Lockerungen vorangetrieben. Sie müssen jetzt aufpassen dass uns die Situation nicht entgleitet.“Göring-Eckardt forderte zudem eine rasche Ausweitung der Corona-Tests. Bund und Länder müssten dringend die Voraussetzungen schaffen, dass die Testkapazitäten in Risikogebieten umgehend hochgefahren werden könnten. Für Kommunen und Landkreise dürfe dies nicht zu zusätzlichen finanziellen Belastungen führen Außerdem brauche es ein bundesweite einheitliches System zur Kontrolle der Entwicklungen, um verlässlich über weitere Lockerungen oder Beschränkungen entscheiden zu können.
„Das scheint mir ein Gang aufs Minenfeld.“Thomas Nitzsche (FDP), Jenas Oberbürgermeister