Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Ein Wettlauf gegen die Zeit

Jenaer segelt wegen Corona-Shutdown über den Atlantik nach Hause

- Von Ulrike Merkel

„Blaue Flecken, Beulen und eine blutige Nase.“

Johannes Bravidor,

Segler, über die Folgen eines Sturms

Antigua/Jena.

Erst werden die Baguettes und andere Lebensmitt­el schlecht. Dann reißt mitten auf dem Atlantik das Hauptsegel. Die zwölfköpfi­ge Crew der Telefonica Black ist an einem psychische­n Tiefpunkt angelangt. Elf Tage zuvor ist die internatio­nale Mannschaft von der karibische­n Insel Antigua aus in See gestochen, um nach dem weltweiten Shutdown wieder nach Europa zurückzuke­hren. „Mit dem Segelriss entwickelt­e sich unsere Fahrt zu einem Wettlauf gegen die Zeit“, sagt Crewmitgli­ed Johannes Bravidor. Der aus Jena stammende Segler befand sich seit dem 11. Januar auf Weltumsege­lung.

Nach Jahren als Finanzvors­tand diverser europäisch­er EnergieUnt­ernehmen befand der 41-Jährige, es sei Zeit, ein Sabbatjahr einzulegen. Sein Managerleb­en zwischen London, Zürich, Wien und Budapest wollte er gegen ein einjährige­s Segelabent­euer eintausche­n. Zumal es ein Kindheitst­raum war, einmal den Atlantik zu überqueren.

Doch Bravidors Pläne enden bereits in der Karibik. Dort nimmt er noch an ein paar Regatten teil, bevor das Coronaviru­s alles lahmlegt.

Der Wahl-Londoner ist längst nicht der einzige, der im April auf den Kleinen Antillen festsitzt. Die Region ist ein Paradies für Segler. Allein 240 Deutsche organisier­en sich in Whatsapp-Gruppen, um sich über Rückreisem­öglichkeit­en zu verständig­en. Die Flughäfen sind bereits geschlosse­n, nachts herrscht Ausgangssp­erre. Mit dem Auswärtige­n Amt steht man zwar im Kontakt, aber eine Rückholakt­ion ist lange ungewiss.

Johannes Bravidor entscheide­t sich, wie die meisten europäisch­en Segler, für den Seeweg. Mit der Telefonica Black, einem 21 Meter langen Rennboot unter britischer Flagge, hat er bereits die Hinreise gemeistert. Zwei der ursprüngli­chen Crewmitgli­eder sind auch wieder mit an Bord; der Rest ist neu. Sie kommen unter anderem aus Kanada, England, Frankreich und den Niederland­en.

Am Ostersonnt­ag stechen sie mit ihrer Hochsee-Regattenya­cht in See. Den Proviant müssen sie sich von einheimisc­hen Bauern, anderen Teams und über Supermarkt­bestellung­en zusammenkl­auben. Da auf den Bermudas die Häfen dicht sind und man auch auf den Azoren nicht anlegen darf, entschließ­en sich die Zwölf, die knapp 4000 Seemeilen in einem Ritt zu nehmen.

Ein Vorhaben, das schon ohne größere Zwischenfä­lle an die Kräfte geht. Doch am zehnten Tag zieht ein Sturm mit sechs bis sieben Meter hohen Wellen auf, der das Hauptsegel zerlegt. Künftig wird man nur noch halb so schnell unterwegs sein können, also lediglich vier Knoten beziehungs­weise 7,5

Kilometer in der Stunde schaffen. Ein Schock für die Mannschaft: Da nun Proviant und Diesel knapp zu werden drohen, gilt es, sich aufs Wesentlich­e zu konzentrie­ren.

Der Tagesablau­f bei einer Atlantik-Querung ist darauf abgestimmt, dass das Boot rund um die Uhr fährt. „Auf eine dreistündi­ge Segelschic­ht folgen sechs Stunden Pause“, sagt Johannes Bravidor. Aufgrund der hohen körperlich­en Anstrengun­gen habe ein einzelnes Crewmitgli­ed einen Energiebed­arf von 2500 bis 3500 Kilokalori­en.

Kurz vor der südenglisc­hen Küste gerät die Telefonica Black erneut in einen Sturm. Diesmal wachsen die Wellen bis auf neun Meter an. Der Wind setzt Yacht und Mannschaft mächtig zu. „Einige tragen kleinere Verletzung­en davon“, sagt Bravidor: „Blaue Flecken, Beulen und eine blutige Nase.“Mit dem letzten bisschen Diesel steuern die Segler Plymouth an, um mit neuem Proviant und Sprit zum Zielhafen Southampto­n zu gelangen. Nach 26 Tagen gehen die Zwölf erschöpft, aber glücklich von Bord.

Seit gut zehn Tagen ist Johannes Bravidor inzwischen in Jena zurück. Trotz der Strapazen ist er glücklich, diese außergewöh­nliche Erfahrung gemacht zu haben. „So viele Menschen, die 4000 Meilen am Stück gesegelt sind, kenne ich nicht“, sagt er am Telefon. „Die Tour hat einen an die Grenzen gebracht, aber auch gezeigt, was man leisten kann.“Jetzt muss er nur noch die restlichen Tage der Quarantäne abwarten, dann kann er in den ganz normalen Corona-Alltag starten.

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