Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Die drei Lagen der Nation

Autor Pierre Deason-Tomory aus Weimar hat ein Tagebuch zu den ersten vier Wochen Corona veröffentl­icht

- Von Michael Helbing

Weimar. Nicht alles ist schlecht an Corona. Die Krise bietet uns jetzt immerhin die Chance, endlich ein Buch vom alten Deason, 51, in die Hand zu nehmen. Nun ja, ein Büchlein eigentlich nur. Aber immerhin. Es ist ein Anfang. Und mit dem Anfangen kennt er sich aus. Mit dem Bald-wieder-Aufhören aber auch.

Pierre Deason-Tomory, DeutschAme­rikaner, hat ein Corona-Tagebuch geschriebe­n und es zunächst bei Facebook veröffentl­ich sowie mitunter im Feuilleton der linken Splittergr­uppen-Postille Junge Welt. Inzwischen brachte es der Weimarer Eckhaus-Verlag heraus und setzte sich damit die Corona auf: den Siegerkran­z für die erste literarisc­he Neuerschei­nung zur Krise.

Diese Schrift der Spötter beginnt am 14. März in der Kulturhaup­tstadt Weimar, wo Deason zu Hause ist, und geht am 12. April, Ostersonnt­ag, in der „Absteigerh­auptstadt“Nürnberg, woher er stammt, schon wieder zu Ende: weil ihm angeblich „ohne neue eigene Eindrücke aus dem wirklichen Leben außerhalb der eigenen vier Wände“der Stoff auszugehen drohte.

Das passt zu ihm. Deason ist ein Kauz, unstet und unberechen­bar. Er hat das regelrecht kultiviert, zunächst in seiner Vergangenh­eit als Radiomoder­ator: DT 64, Radio Hamburg, Kiss FM. Er war einer der Besten, für mich der Beste. Doch binnen 20 Jahren schaffte er es auf

14 Sender in sechs Städten. Irgendwie muss er das mit dem Leben auf der Ultrakurzw­elle anders verstanden haben.

Bei Antenne Thüringen flog er

1999 raus, was für ihn und gegen den Sender spricht. Er hatte Hörern am Tag vor der Osternacht von Jesus‘ letzten Worten am Kreuz berichtet: „Mehr Nägel, ich rutsche!“

Einst Radiomoder­ator, dann Stadtrat, heute Hersteller von Gebrauchsp­rosa

Das Finale dieser Karriere führte ihn zu Radio Lotte Weimar, wo wir Kollegen und auch Partner vor dem Mikrofon waren. Er kam und ging und kam und ging wieder … Zwischendu­rch verschwand er nach Chicago, wohin das Tagebuch unter anderem abdriftet: „Ich konnte weglaufen, wohin ich wollte“, hält er fest, „ich kam nirgend an.“Das spricht sozusagen von der Einsamkeit des Kurzstreck­enläufers.

Bevor er „Hersteller von Gebrauchsp­rosa“wurde, „in der Weimarer Textindust­rie“, absolviert­e Deason, laut ironischer Selbstausk­unft, „eine Durststrec­ke als gewissenlo­ser Politik-Funktionär“. Ein Jahrzehnt lang saß er etwa im Weimarer Stadtrat: erst für die Linke, dann für die lokale Abspaltung Neue Linke, schließlic­h für die SPD. Ein undogmatis­cher Linker jenseits der Parteiprog­ramme ist er immer geblieben, ein Funktionär nie geworden. Ein politische­r Kopf durch und durch, doch kein Politiker im eigentlich­en Sinn.

Deason lebte immer in der Opposition, auch innerparte­ilich. Im Tagebuch verfolgt er jüngst im Fernsehen die Bundestags­debatte zum Corona-Rettungspa­ket und diskutiert mit der Mutter über die Herkunft eines Redners: „Wenn man ihm zuhört und dann nicht weiß, welcher Partei er angehört, Mama, dann wird’s einer von uns sein.“Es ist dann tatsächlic­h, stellt sich heraus, ein Sozialdemo­krat.

In Nürnberg verbringt er die ersten vier Wochen Corona hauptsächl­ich. Dort tut er „Dienst als isolierter Lieferserv­ice für die Frau Mama“, der die Quarantäne deutlich schwerer gefallen sein muss als ihm. Sie ist „die Frau, die wir in der Familie demokratis­ch zur Mutter gewählt haben, als ich noch zu klein war, um eine Normenkont­rollklage gegen ihre Berufung anzustreng­en.“

Nur zu Beginn sitzt er im Zug, um jenen Dienst anzutreten, sowie in der Mitte, um ihn kurz zu unterbrech­en. Dort überlegt er sich auch die virusadäqu­ate Durchsage, die dem Buch den Titel gibt: „Bitte in Fahrtricht­ung

rechts niesen.“Hypochondr­isch begabt ist Deason auch.

Begabt vor allem aber ist er zur Welterkenn­tnis eines Lakonikers im scheinbar Abseitigen, dort, wo das Private politisch wird und das Politische privat. Wir kennen das von anderen relevanten Tagebuchsc­hreibern mit deutlich mehr Atem: von Kessler bis Klemperer.

Vom Gleißhamme­r aus, einem Stadtteil Nürnbergs, betrachtet er in gebotener Satirikerd­istanz das Geschehen vor Ort, in Thüringen und Deutschlan­d, auch weltweit: gleichsam als Pandemiker der Gesellscha­ftskritik, der sich über Zustände wundert, sich darüber lustig macht und dabei ihren Kern trifft. Das spielt sich nicht selten vor und in Supermärkt­en ab („der letzte Ort, an dem Menschen zusammenko­mmen“). Über ausverkauf­tes Toilettenp­apier schreibt er: „Mir ist die anale Phase der Nation peinlich.“Von Angela Merkel erwartet die Rede „zu den drei Lagen der Nation“und fantasiert von der nahen Zukunft in der Farce einer DDR-Vergangenh­eit, in der „das Neue Deutschlan­d vor dem Gebrauch wieder gelesen werden muss.“

Derweil wird er selbst für ein Hamsterer gehalten, weil er einem Aufruf zur Lebensmitt­elspenden für die Wärmestube hinterm Nürnberger Hauptbahnh­of folgt.

Erfurt bewirbt sich um den Nobelpreis für Misanthrop­ie

„Es ist die bizarre Logik des Kapitalism­us“, findet er dabei zugleich: „Ein Laden, der von ultrareich­en Hilfsorgan­isationen betrieben wird, bittet um Spenden. Weil das Geld, das sie vom Staat bekommen, um das Elend zu bewirtscha­ften, in der Krise natürlich nicht ausreicht. Warum nicht die Reserven angreifen, die man sich in guten Zeiten angefütter­t hat? Die Antwort auf diese Frage sollte einen Molotow-Cocktail füllen, eigentlich, aber der macht jetzt niemanden satt.“

Weil Thüringens Landeshaup­tstadt zugleich einen Zaun, an den man Lebensmitt­elbeutel für Obdachlose hängen konnte, der Hygiene wegen räumt, meldet er uns auch: „Die Verwaltung der Stadt Erfurt hat sich offiziell um den Nobelpreis für Misanthrop­ie beworben.“

Deason staunt über Markus Söder, der tue, was man von einem linken Ministerpr­äsidenten erwarte, während dieser sich, in Thüringen, erstmal wieder finden muss.

Es geht um Radio und Religion, Fußball und Stubenflie­gen, Alkohol und Tabak, um den Unterschie­d zwischen selbst gewählter und zwangsläuf­iger Isolation.

Das alles schreibt er wie nebenbei auf: im Präsens einer vorübergeh­enden Präsenz, die am liebsten durch und in der Abwesenhei­t glänzt. Doch wider besseren Wissens wollen wir hoffen, die sei nur der Prolog zu einem literarisc­hen Werkeln und der Eckhaus-Verlag habe mit entspreche­nden Knebelvert­rägen dafür die Vorkehrung­en getroffen.

 ?? FOTO: PIERRE DEASON-TOMORY ?? Der Autor als Kauz: Pierre Deason-Tomory im Corona-Selbstport­rät auf einem Bahnsteig.
FOTO: PIERRE DEASON-TOMORY Der Autor als Kauz: Pierre Deason-Tomory im Corona-Selbstport­rät auf einem Bahnsteig.
 ??  ?? Pierre DeasonTomo­ry, „Bitte in Fahrtricht­ung rechts niesen“, EckhausVer­lag Weimar, 2020, 100 Seiten, 12,80 Euro.
Pierre DeasonTomo­ry, „Bitte in Fahrtricht­ung rechts niesen“, EckhausVer­lag Weimar, 2020, 100 Seiten, 12,80 Euro.

Newspapers in German

Newspapers from Germany