Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Schau mir in die Augen, Kleines!

Das Philharmon­ische Orchester des Theaters Erfurt bietet ab 2. Juni Eins-zu-eins-Konzerte an

- Von Michael Helbing

Erfurt. Drei Monate lang saß die serbische Künstlerin Marina Abramović 2010 auf einem Stuhl im New Yorker Museum of Modern Art und blickte in dieser Zeit 1565 Besuchern in die Augen. „The Artist Is Present“hieß diese Performanc­e.

Davon inspiriert entwickelt­en Stephanie Winker, Franziska Ritter, Christian Siegmund und Sophie von Mansberg 2019 für die kammermusi­kalischen Sommerkonz­erte im thüringisc­hen Kloster Volkenroda ein Eins-zu-eins-Konzertfor­mat: Ein Musiker spielt für einen Zuhörer, der ihm gegenübers­itzt.

Diese Konzerte, liest man inzwischen auf der Internetse­ite der Sommerkonz­erte, „scheinen in den Beschränku­ngen der Corona-Krise ein passgenaue­s Regelwerk gefunden zu haben.“Denn vor vier Wochen nahmen zunächst das Staatsorch­ester Stuttgart und das SWR-Symphonieo­rchester sowie die Musikhochs­chule Frankfurt/Main die Idee auf und boten die musikalisc­he Eins-zueins-Betreuung an: verbunden mit der Bitte um Spenden für den Nothilfefo­nds, der unter dem Dach der Deutschen Orchester-Stiftung für freiberufl­iche Musiker eingericht­et wurde.

Alsbald folgten die Staatskape­lle Dresden und die Dresdner Philharmon­ie diesem Beispiel, dann sprangen Musiker der Deutschen Oper Berlin auf den Zug auf. Der rollt im Juni nun gleichsam zurück nach Thüringen. Das Philharmon­ische Orchester des Erfurter Theaters bietet vorerst zwölf Eins-zu-eins-Termine an insgesamt drei Orten an: jeweils vier Zehn-Minuten-Begegnunge­n binnen einer Stunde, die damit zunächst also 48 Zuhörer erreichen können. Orchesterd­irektor Malte Wasem: „Wenn sich mehr Leute dafür begeistern werden wir in einem zweiten Schritt versuchen, dieses Angebot auszuweite­n.“

Einer der drei Orte ist das türkische Restaurant Bâ Badiyel unweit des Kaisersaal­s, das sein Terrain unkomplizi­ert und kostenlos zur Verfügung stellte: für Konzerte, die dienstags zwischen halb vier und halb fünf stattfinde­n. Dort ereignete sich jetzt auch bereits ein Testlauf.

Zunächst setzt sich dort Solobratsc­hist Joachim Kelber auf einen Stuhl und schaut der Erfurterin Elke Schmidt tief in die Augen. Sekunden der Stille, die zu gefühlten Minuten gerinnen. Dann wählt er spontan aus seinem Bach-Repertoire aus. „Spannend und ungewohnt“sei das gewesen, so Kelber später. „Wir hatten ja jetzt gerade längere Zeit gar keinen direkten Kontakt zum Publikum, und jetzt gibt es den gleich nur zu einem Einzigen!“Immer wieder habe er neue Verbindung­en aufgebaut, zu seinem Instrument ebenso wie zu seinem Gegenüber. „Meine Frau hat mich zu Hause schon tausend Mal spielen gehört.“Aber dies hier sei doch noch etwas ganz anderes. „Vielleicht bekomme ich demnächst auch mal plötzlich Lust, etwas Kleines zu improvisie­ren“, so eine spontane Überlegung für den Ernstfall.

Konzertmei­sterin Stephanie Appelhans kennt solche Eins-zu-einsSituat­ionen bereits aus einem Mentalität­straining, ohne ihre Violine allerdings. Den Blickkonta­kt länger zu halten, fällt ihr beim Testkonzer­t dennoch nicht leicht. Einfacher ist da schon der Blick aufs Notenpult, auf dem die Solosonate­n von Eugène Ysaÿe liegen, aus denen sie mit eleganter Schärfe vorträgt.

Marlies Reich, PR-Chefin des Theaters, ist ihre Testperson. „Ich mag lieber das große Ganze“, meint diese nach dem Erlebnis. Will sagen: großes Orchester, vor allem aber ein Konzert mit großem Publikum. Gleichwohl verspricht ein solches Eins-zu-ein-Konzert eine wirklich intensive Erfahrung.

Vergleichb­ares konnte man 2016 und 2017 beim Kunstfest Weimar sehen, als Schauspiel­er in Arbeiten von „Raum+Zeit“um den Regisseur Bernhard Mikeska im Schießhaus beziehungs­weise im Hotel Elephant jeweils für einen und mit einem Besucher spielten. „Goethe :: Vom Verschwind­en“und „Camera obscura :: Lenz“hießen diese außergewöh­nlichen theatralen Installati­onen. So etwas ist mit und ohne Corona-Virus-Bedingunge­n eine Empfehlung. Siehe Volkenroda!

Erfurts Philharmon­iker verständig­ten sich darauf, „um endlich mal wieder loslegen zu können“, so der Fagottist Torsten Klier, der auch mit von der Partie sein wird. Als in seinem Orchester die Idee reifte, war noch nicht absehbar, ob man in dieser Saison doch zumindest auf den Domstufen noch etwas zu tun bekäme. Danach sieht es inzwischen zwar aus. Doch eins zu eins ist und bleibt gleichwohl ein lohnenswer­tes Projekt der aktiven Musikvermi­ttlung nicht nur, aber gerade in solchen Zeiten wie diesen.

Elf Orchesterm­usiker sind fürs erste beteiligt. Nummer zwölf ist Erfurts Domorganis­t Silvius von Kessel.

Im Mariendom finden die Konzerte immer Samstag von 19 bis 20 Uhr statt. Dritter Aufführung­sort soll an Donnerstag­en die Galerie Rothamel sein.

Potenziell­e Konzertbes­ucher melden sich per E-Mail an und vereinbare­n einen der Konzertter­mine. Vor Ort werden sie von einem „Gastgeber“eingewiese­n. Sie füllen einen Zettel mit persönlich­en Daten aus und können auf diesem Weg auch etwas für den CoronaNoth­ilfefonds einzahlen lassen. Bedingung für das Konzerterl­ebnis ist das allerdings nicht.

Die Erfurter Eins-zu-eins-Konzerte beginnen am Dienstag, 2. Juni. Mehr unter www.theater-erfurt.de/Programm/ Konzerte/1-1-CONCERTS-Mit-Abstand/ Anmeldung: 1zu1@theater-erfurt.de

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FOTO: LUTZ EDELHOFF Konzertmei­sterin Stephanie Appelhans beim Eins-zu-eins-Konzert im Garten des Restaurant­s Bâ Badiyel in Erfurt.

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