Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Ein Stimmungsbild aus Weimar im Frühjahr 1945
Der Sonderkorrespondent einer Emigrantenzeitung berichtet nicht nur aus Buchenwald, sondern widmet sich auch den Bürgern in der Stadt zum Kriegsende
Wilhelm Wolfgang Schütz, Sonderkorrespondent des „Aufbau“, schreibt im Juni 1945 mit Blick auf seinen Weimarbesuch Ende April nach seinen Recherchen in Buchenwald:
Weimar ist eine Bürgerstadt. Keine Industrie, keine Industriearbeiter, keine Studenten [die beiden Hochschulen waren zu dieser Zeit geschlossen]. Die paar Gelehrten vom Goethe und Schiller Archiv, vom Nietzsche Institut [gemeint ist das Nietzsche-Archiv], haben sich sichtlich nicht um die Bürger gekümmert, und diese nicht um jene. Die Parteihierarchie hat die Stadt beherrscht, hat ihre Günstlinge in die Thüringischen Ministerien [seit der Gründung des Landes Thüringen zum 1. Mai 1920] geschoben. Den wenigen Beamten, die man zu Gesicht bekommt, steht das schlechte Gewissen auf der Stirn geschrieben. Dabei mögen sie so gut und so schlecht sein wie tausend andere. Die Nazi-Größen sind „getürmt“und haben den kleinen Leuten die Stadt überlassen. Die „kleinen Leute“sind klein, schweigend, verschüchtert, tatenlos. Sie haben noch nicht begriffen, daß sie keine Regierung, keine Symbole, keine umfassenden Begriffe mehr haben. Sie schauen sich noch nicht nach Neuem um. Sie wissen aber auch nicht, was nun tatsächlich mit ihnen geschieht.
Das Einzige, was sie sehen, ist die Ablösung einer autoritären Gewalt durch eine „Militär-Regierung“. In welchen menschlichen, gesetzlichen, staatlichen Rahmen sie dadurch eingefügt sind, wissen sie natürlich alle nicht. Sie begreifen nur, daß eine Reihe von Proklamationen General Eisenhowers und der Militär-Regierung erlassen wurden. Wie viele folgen werden, in welcher Richtung die Dinge sich entwickeln, hat keiner von ihnen eine Ahnung. Ja, die Nazis und ihre Gesetze werden ausgefegt, das ist ziemlich klar. Was an seine Stelle tritt, ist völlig unklar. In jedem Gespräch drückt sich diese Unklarheit aus. Weder eine staatliche noch eine verfassungsmäßige, weder eine moralische noch eine gesetzliche Form herrscht. Man lebt, wie in einem Lager hundert Kilometer von der nächsten Ortschaft entfernt, ohne daß jemand zu sagen wüßte, wie lange das dauert, und wie der nächste Befehl lautet. Das nämliche Empfinden auch auf dem Land, in einem kleinen Dorf – Ulla –, wo ich mich mit einer Bäuerin unterhalte. Das Gespräch ist aufschlussreich.
Angst und Ratlosigkeit
„Haben Sie von Buchenwald gehört?“, fragt sie mich ängstlich. Jedermann, mit dem man in ein längeres Gespräch kommt, fragt das. Ich bejahe und frage, was sie darüber denkt. Die Antwort: „Ich schäme mich, daß ich eine Deutsche bin.“– „Haben Sie davon gewußt?“– „Nicht das! Ja, manchmal habe ich Gefangene gesehen. Sie haben armselig dreingeschaut. Einmal habe ich auch etwas getan. Ein alter Mann ist hinter dem Zug zurückgeblieben, da hab’ ich ihm ein Stück Kuchen in die Hand gedrückt, weil ich mein Mittagessen mit auf dem Feld gehabt hatte. Aber die nächsten 3 Nächte hab’ ich kein Auge zugemacht. Jedesmal, wenn ein Geräusch war, dacht ich mir, sie kommen und holen mich.“Und dann, zögernd: „Glauben Sie, die Amerikaner werden uns jetzt alle erschießen?“Ich beruhige sie, und sie schaut mir besorgt und in Gedanken versunken nach.
In einem Professorenhaus [gemeint ist die „Altenburg“in der Jenaer Straße 3, wo der Archivar Max
Hecker wohnte] finde ich die gleiche Ratlosigkeit. Sie ist prägnanter ausgedrückt, findet Bilder und Begriffe, spricht von schwarzen Horizonten, und dem Nichts. Aber sie will sich zunächst nicht in eigene Initiative ablenken lassen. Beklagt wird das Schließen der Schulen, mögen sie auch schlechte Schulen gewesen sein. Die Enkel werden verwildern. – Gut denn, warum nicht mit anderen Akademikern von Rang an die Schaffung eines neuen Erziehungssystems, eines neuen freien akademischen Lebens gehen? Ist es nicht deutlich, daß die neue Obrigkeit selbst keine allzu klaren Pläne mitbringt? Kann man nicht etwas tun und raten? Würde man dann nicht vielleicht doch noch vorankommen? – Verärgert kommt die Antwort, die aus der hektischen Abwehr jeglicher Verantwortung entspringt: „Vorankommen? Das mag in den Abgrund sein. Auch das ist Vorankommen.“
Das wirtschaftliche Leben gelähmt
Wenn der neuernannte Bürgermeister Anschläge an die Häuser kleben lässt, daß alle arbeitsfähigen Männer und Jugendlichen Arbeit für die Besatzungsarmee und Aufräumungsarbeiten in der von Bomben heimgesuchten Stadt übernehmen müssen, dann stellt sich jedermann ein. Seltsam zusammengewürfelte Kolonnen von Alten und Halbwüchsigen trotten zum Rathaus. Ein paar Lastautos der amerikanischen Armee fahren mit solchen improvisierten Arbeitstrupps irgendwo zum Stadtrand, wo Verladungen stattfinden. Vor ein paar Tagen ist hier noch gekämpft, ist wahrscheinlich die nämliche traurige Schar vom brüllenden Gauleiter zum Schanzen oder zur VolkssturmÜbung getrieben worden. Man steht vor einem Ährenfeld, in das der Hagel gefahren ist. Zuerst muß sich alles wieder aufrichten.
Ja, in den schwergebombten, von Kämpfen heimgesuchten Gegenden gibt es noch einige, die hassen. In den Konzentrationslagern, in einzelnen, kleinen Gruppen der Opposition, der Kirchen, findet sich noch der elementare Wille zur Tat. Man will etwas schaffen. Man will überzeugen. Man hat das Hassen gelernt. Eine verhärmt aussehende ältere Frau, mit von Tränen geränderten Augen, klagt, daß sie aus Trier hierher evakuiert worden ist – mit Gewalt. Ihr Haus ist abgebrannt. Sie ist allein in der Welt – jetzt. Alles, was sie besitzt, ist das, was sie am Leibe trägt. Ich frage mich, was ich von der Frau politisch erfragen soll …
Man ist abgeschnitten von der Welt
Nach kurzer Frist hat man aufgehört, sich um Politik, um Krieg, um Kapitulationen, um Volks- und Staatsreden, um irgendetwas zu kümmern. Was nützt es auch schon – wenn man doch nichts weiter erfährt, als was ein Blättchen, das mit großer Sorgfalt von der Zwölften Armeegruppe in Frankfurt unter dem Titel „Frankfurter Presse“herausgebracht wird [in Weimar wurde die parallel dazu in Kassel herausgegebene „Hessische Post“verteilt], alle Wochen einmal bringt? Und selbst dann muß man in dieser neueroberten Stadt rasch zupacken, um von dem Polizisten, der das Blatt verteilt, eine Nummer zugesteckt zu erhalten. Politische Willensbildung ist also nicht möglich, nicht so und nicht so, nicht pro und nicht contra. Es gibt noch manchen Hitlernarren und manche Hitlernärrin. Die werden ihren Hexenglauben in der Stille der Kammern und Häuser auf die neue Zeit einrichten, oder blind und verzweifelt einfach daran festhalten. Es gibt sehr viel mehr, denen das, was sie an
Vorstellungen und Verführungen angenommen, von diesem Kriege buchstäblich ausgebrannt wurde. Und es gibt die politische Minderheit, die Tausende, die morgen aus den Konzentrationslagern nach Hause kommen werden. Viele, die jetzt sprechen wollten, nachdem sie ein Jahrzehnt und mehr schweigen mussten. Für sie ist die Stunde noch nicht gekommen.
Das Land ist paralysiert
Das gleiche Bild der Erstarrung auf wirtschaftlichem Gebiet. Die großen Verkehrslinien, Straßen, Wasserwege, die überhaupt noch verwendbar sind, werden von den Armeen der Alliierten benötigt. Wo noch etwas Vorräte in den Lagerhäusern liegen, laufen die Zuteilungen weiter. Niemand ahnt, daß morgen vielleicht nichts da sein wird, nicht einmal der Ladeninhaber, der an seine Lieferanten glaubt, wie an den lieben Gott. Und dann dieser blinde Glaube an die Obrigkeit. Gestern waren es die Nazis, heute sind es die Militärbehörden. Irgendjemand wird schon die Versorgung planen und sichern. Dafür sind sie ja die Regierung.
Zu all dem kommt die Völkerwanderung. Millionen von Fremdarbeitern, Männer, Frauen, Burschen, junge Mädchen, wandern nach Westen. Phantastische Kleidungen, lustige Farben, primitive Fahrzeuge. Kinderwagen sind hochbepackt mit den paar Habseligkeiten. Handkarren, alte Fahrräder, alles, was Räder hat. Obenan flattert oft die holländische, belgische, französische Fahne. Manche gehen noch freundlich in die leeren Läden, um vielleicht doch noch ein Stück Brot oder eine Wurst zu erstehen. Aber die Läden sind leer, völlig leer. Dann kommt es zu Plündereien, verbrämt mit Trinkgelagen in aufgesprengten Weinkellern, von denen die Hotelangestellten atemlos erzählen. Einwohner machen mit, und was an Geordnetem und Gestapeltem vielleicht wirklich noch den Krieg, die Göringpläne [der wirtschaftliche „Vierjahresplan“von Hermann Göring] und die Bombardements überlebte, treibt den Rinnstein hinab, oder macht die Völkerwanderung nach Westen mit.
Quelle: Aufbau Reconstruction New York, Vol. XI (1945), Nr. 24 vom 15. Juni 1945, S. 40. Lesen Sie alle vier Berichte unter www.tlz.de/schuetz